Grottige Gastgeber, gehetzte Show - und ein erbauliches Historiendrama als bester Film: Hollywood zeigte sich bei der 83. Oscar-Verleihung von seiner weltfremden Seite. Statt politische Statements und mutige Entscheidungen zu wagen, schwelgten die Juroren in Nostalgie.
Kein Wort zu den radikalen Umwälzungen in Nordafrika. Kein Wort zu den sozialen Missständen in der armen, von der Finanzkrise gebeutelten Bevölkerung der USA, kein Wort über den schnellen, tiefen Fall des Polit-Superstars Barack Obama, kein Wort zu irgendwas: Die Oscars 2011 werden in die Geschichte dieses ehrwürdigen Preises eingehen als die Show, die aktuelle Geschehnisse in der Welt so vehement ausblendete, als hätten die Unterbewusstseins-Terroristen aus Christopher Nolans Thriller "Inception" ganz Hollywood in einen perfide konstruierten Traum von einer besseren Welt versetzt. Langweiliger, hermetischer und nostalgischer als diese war kaum eine Oscar-Verleihung in den vergangenen zehn Jahren.
Schon die Wahl der Gastgeber erwies sich schnell als Fehlentscheidung: Schielend auf eine jüngere Zielgruppe und bessere Einschaltquoten hatte man die Jungstars James Franco und Anne Hathaway verpflichtet. Doch weder stimmte die Chemie zwischen den beiden, noch gelang ihnen in der knapp dreieinviertelstündigen Show auch nur ein einziger guter Gag. Peinlich, wie Comedian Billy Crystal, mehrfacher Oscar-Host in der Vergangenheit, in seiner kurzen Laudatio auf Bob Hope mehr flotte Sprüche unterbrachte als Hathaway und Franco in der gesamten restlichen Zeit. Harmloser und biederer ging es nicht. Und als Franco sich dann auch noch zu Zoten hinreißen ließ, indem er einige Titel nominierter Filme als anzüglich deklarierte - uiuiui! -, wünschte man sich fast die good old boys Steve Martin und Alec Baldwin vom vergangenen Jahr zurück. Die waren zwar alt, hatten aber wenigstens genug Routine, das richtige Timing und die nötige Respektlosigkeit für ein paar komische Sprüche.
Keine Atempause
Erschwerend kam hinzu, dass der Quotendruck und die daraus folgenden Auflagen des übertragenden TV-Networks ABC so groß geworden sind, dass die ehemals gerne vier Stunden dauernde Oscar-Show immer mehr zur Hetzerei wird. Um in der geforderten Länge von höchstens dreieinhalb Stunden zu bleiben, wird zügig Preisvergabe an Preisvergabe gereiht, dabei geht wertvoller Raum für Statements, Sketche und den letzten Rest Feierlichkeit verloren. Aber auch die Ausgezeichneten nutzten ihre 45 Sekunden Sprechzeit dieses Jahr nicht, um Bedeutsames von sich zu geben: Es scheint, als hätte sich eine große Innerlichkeit und Selbstbezogenheit in Hollywood eingeschlichen. Das kritisiert man als Europäer freilich gerne - und wird immer wieder mit dem ewigen Credo der Academy konfrontiert, dass die Oscars eine unpolitische Veranstaltung seien, bei der die Filmschaffenden nun einmal sich und ihre Kunst zelebrieren. Mehr nicht.
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Die Sieger: And the Oscar goes to...
Schön und gut, doch selbst das kann man ja auf engagierte und inspirierte Art und Weise tun. Angesichts der großen Ödnis, die sich über weite Strecken der diesjährigen Show auftat, wünschte man sich Querschläger wie Michael Moore oder Sean Penn, die in der Lage gewesen wären, den Lull aus Nostalgie und Selbstbesoffenheit mit scharfen Kommentaren zu zerschneiden. Der Einzige, der in diese Kategorie fiel, war Filmemacher Charles Ferguson, der den Oscar für die Finanzkrisen-Dokumentation "Inside Job" gewann, und in seiner Dankesrede das ganze globale Desaster als Werk von Betrügern bezeichnete. Doch ehe seine Worte Wirkung zeigen konnten, hastete die Show bereits weiter zum nächsten Preis. Keine Atempause, auch wenn gerade Geschichte gemacht wird.
Auffällig ist ja, dass so viele nominierte Filme wie nie auf wahren Geschichten beruhten: David Finchers "The Social Network" erzählt die Biografie des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg, "The King's Speech" vom Stottern des britischen Königs George VI. und "127 Hours" den haarsträubenden Survival-Thriller des Extremkletterers Aron Ralston, um nur einige zu nennen. Böse Zungen behaupten, das liege daran, dass Hollywood in einer Storykrise steckt, dass es an guten Originaldrehbüchern mangelt. Stattdessen würde eben auf populäre literarische Stoffe ("Harry Potter", "Twilight", aber auch "Winter's Bone") zurückgegriffen oder eben gleich die Realität zu Fiktion verarbeitet. Fragt sich nur, warum die politische und gesellschaftliche Realität dann so wenig vorkommt, wenn diese Filme bei der wichtigsten Preisvergabe der Branche gewürdigt werden.
Flucht in Wunschwelten
Einen Film wie "The King's Speech" zum besten Film des vergangenen Jahres zu küren, das zeugt schon von Realitätsflucht und erinnert an die letzten lähmenden Jahre der Goldenen Ära in den Sechzigern, bevor die Radikalen des New Hollywood alles entrümpelten, aber auch an den Siegeszug der erbaulichen Historienschmonzette in den Neunzigern, als "Titanic", "Der englische Patient" und "Shakespeare in Love" Oscars en masse einsammelten. Der damalige Star-Produzent war Miramax-Boss Harvey Weinstein, der nun als Executive Producer mit seinem Siegerfilm ein Comeback auf dem Hollywood-Thron feiern kann. Die Ironie der Geschichte: Damals stand Weinstein an der Spitze einer starken Bewegung unabhängiger Produktionsfirmen, heute agiert er mit seiner neuen Firma zwar immer noch als independent, steht jedoch bei dieser Oscar-Show mit diesem Film als Vertreter des Establishments da.
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Oscars 2011: Glitzer, Glamour, Goldjungen
Denn "The Social Network", "Inception", "Winter's Bone" oder "The Kids Are All Right" bilden die komplexe und moralisch ambivalente Wirklichkeit unserer Zeit viel eindringlicher ab als ein Wohlfühl-Dramolett über einen Monarchen, der seine Stimme finden muss, um seinem Volk Mut zuzusprechen. "The King's Speech" zeigt eine idealisierte Welt, wie sie nur in einer Traumfabrik entstehen kann: Gut und Böse sind klar definiert, der tragische Held erhebt sich über sich selbst und wird zur Inspiration für die Allgemeinheit.
Die Figur des Mark Zuckerberg, die David Fincher in "The Social Network" skizziert, ist weitaus vielschichtiger und spiegelt in seinem Verhalten die ganze moralische Zerrissenheit des 21. Jahrhunderts wider: Das Computer-Genie als Psychopath, der auch vor geistigem Diebstahl nicht zurückschreckt, um seinen Traum zu verwirklichen. Es wäre mutig gewesen, dieses moderne Zeitgeist-Drama auszuzeichnen, doch ganz offenbar herrscht in der Academy zurzeit eher das Bedürfnis, in Wunschwelten wie "The King's Speech" abzutauchen, dessen naive Darstellung historischer Vorgänge ans Märchenhafte grenzt. Wie anders stellte sich das noch im vergangenen Jahr dar, als Kathryn Bigelows Kriegsthriller "The Hurt Locker" sogar den Mega-Blockbuster "Avatar" ausstechen konnte.
Alles korrekt, aber auch erwartbar
Natürlich darf man bei allem Genörgel nicht vergessen: It's Show-Business! Und selbstverständlich ging es darum, hervorragende künstlerische Leistungen auszuzeichnen. Die Oscars für Colin Firth ("The King's Speech") und Natalie Portman ("Black Swan") sind ebenso hochverdient wie die Preise für den Drehbuchautor Aaron Sorkin und die Soundtrack-Komponisten Trent Reznor und Atticus Ross (alle "The Social Network") sowie die vier technischen Awards für "Inception". Alles korrekt, aber auch alles so, wie man es sich im Vorwege gedacht hatte. Lediglich der Oscar für die allzu konventionelle Inszenierung des britischen TV-Regisseurs Tom Hooper ("The King's Speech") ist ein echtes Ärgernis und ein Schlag ins Gesicht für visionäre, ebenfalls nominierte Filmemacher wie Darren Aronofsky ("Black Swan"), David Fincher oder Joel und Ethan Coen ("True Grit").
Die Coens, zehnmal nominiert, sind die ganz großen Verlierer dieser Oscar-Saison. Ihre lustvolle Demontage des Western-Genres bekam am Ende keinen einzigen Preis. Vor drei Jahren hatten die Regie-Brüder mit ihrem bitterbösen Drama "No Country for Old Men" noch die Academy Awards dominiert, heute will man ihr oft entlarvendes, hintersinniges, aufklärerisches Kino dann lieber doch nicht aufs Podest heben.
So klammert sich Hollywood in diesem Jahr recht verzweifelt und verkrampft an seine Mythen und Märchen. The show must go on, lautet eines der ältesten Gesetze der Branche. Angesichts solch humorloser und höhepunktloser Veranstaltungen fragt man sich jedoch, wie lange noch.
Die Oscar-Gewinner 2011
Bester Film
"The King's Speech"
Hauptdarstellerin
Natalie Portman, "Black Swan"
Hauptdarsteller
Colin Firth, "The King's Speech"
Nebendarstellerin
Melissa Leo, "The Fighter"
Nebendarsteller
Christian Bale, "The Fighter"
Regie
Tom Hooper, "The King's Speech"
Nicht-englischsprachiger Film
"In a Better World", Susanne Bier, Dänemark
Adaptiertes Drehbuch
Aaron Sorkin, "The Social Network"
Original-Drehbuch
David Seidler, "The King's Speech"
Kamera
Wally Pfister, "Inception"
Schnitt
Angus Wall, Kirk Baxter, "The Social Network"
Ausstattung
Robert Stromberg, Karen O'Hara, "Alice in Wonderland"
Kostümdesign
Colleen Atwood, "Alice in Wonderland"
Ton
"Inception"
Ton-Schnitt
"Inception"
Maske
Rick Baker, "The Wolfman"
Spezial-Effekte
"Inception"
Original-Filmmusik
Trent Reznor and Atticus Ross, "The Social Network"
Original-Song
Randy Newman, "We Belong Together" aus "Toy Story 3"
Er galt als gesetzt: Colin Firth wurde als bester Hauptdarsteller für seine Rolle in "The King's Speech" ausgezeichnet.
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Firth protestierte zwar dagegen, dass die Zensurbehörde Flüche aus dem Film über den stotternden König geschnitten hat - doch über den Oscar freute er sich trotzdem.
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Erwartet und verdient: Natalie Portman wurde als beste Hauptdarstellerin mit einem Oscar für ihre Leistung in "Black Swan" geehrt.
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Bester Nebendarsteller: Christian Bale für seine Rolle als Trainer eines heruntergekommenen Boxers in "The Fighter"
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Beste Nebendarstellerin: Melissa Leo für ihre Rolle als Mutter des Boxers in "The Fighter" - das erste Mal seit "Hannah und ihre Schwestern" (1986), dass beide Nebendarsteller-Oscars an einen Film gingen.
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Beste Regie: Tom Hooper für "The King's Speech". Das Historiendrama bekam nur vier Preise bei zwölf Nominierungen - aber dieser war etwas überraschend, denn David Fincher ("The Social Network") war favorisiert.
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Bester animierter Spielfilm: Lee Unkrich küsst die goldene Statuette für "Toy Story 3".
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Bestes adaptiertes Drehbuch: Aaron Sorkin für "The Social Network"
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Beste Kamera: "Inception". Tom Hanks (links) macht Platz für Wally Pfister und seine Trophäe.
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Bester Dokumentarfilm: "Inside Job" von Charles Ferguson und Audrey Marrs
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Bester Schnitt: "The Social Network". Die Oscars gingen an Kirk Baxter (links) und Angus Wall.
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Bester fremdsprachiger Film: "In a Better World". Die Dänin Susanne Bier freute sich sichtlich über die Auszeichnung.
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Beste Spezialeffekte: "Inception". Paul Franklin, Chris Corbould, Andrew Lockley und Peter Bebb (v.l.n.r.) halten stolz ihre Oscars in die Kameras.
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Bestes Originaldrehbuch: David Seidler erhielt die Statuette für "The King's Speech".
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Beste Filmmusik: Atticus Ross und Nine-Inch-Nails-Star Trent Reznor für "The Social Network"
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Bester Song: "We Belong Together" von Randy Newman in "Toy Story 3"
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Preis für die besten Kostüme: "Alice in Wonderland". Schauspielerin Cate Blanchett (links) freute sich mit Colleen Atwood nach der Verleihung.
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Bestes Make-up: "The Wolfman". Riesige Freude bei Rick Baker und Dave Elsey
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Bester Tonschnitt: Lora Hirschberg, Gary A. Rizzo und Ed Novick für "Inception"
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Beste Ausstattung: Robert Stromberg und Karen O'Hara für "Alice in Wonderland"
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Bester Kurzfilm: "God of Love" von Luke Matheny
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Bester animierter Kurzfilm: "The Lost Thing". Die Oscars gingen an Andrew Ruhemann (links) und Shaun Tan.
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Bester Dokumentar-Kurzfilm: "Strangers No More" von Kirk Simon und Karen Goodman
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Bestes adaptiertes Drehbuch: Aaron Sorkin für "The Social Network"
Die beliebten Statuetten: Im Kodak Theatre in Los Angeles wurden die Oscars verliehen.
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Die Gewinnerin des Abends: Natalie Portman wurde mit dem Oscar als beste Hauptdarstellerin geehrt.
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Britisches Understatement: Colin Firth, haushoher Favorit für den Oscar in der Kategorie Bester Schauspieler, zeigte sich auf dem roten Teppich noch wenig emotional. Kurz darauf wurde er mit einer goldenen Statuette ausgezeichnet.
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Anne Hathaway, Schauspielerin und Moderatorin der diesjährigen Verleihung, lacht dem Lampenfieber ins Gesicht.
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Jennifer Lawrence, Star in dem nominierten Sozialdrama "Winter's Bone", posiert für die Fotografen.
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Cate Blanchett. Schöner wird's nicht.
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Last-Minute-Putz auf der Bühne des Kodak Theatre: Damit gleich auch alles richtig schön glitzert.
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Amy Adams ist als beste Nebendarstellerin für ihre Rolle in "The Fighter" nominiert.
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Voll verkabelt: Auf dem roten Teppich herrscht medialer Ausnahmezustand.
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Bitte draufstellen und drauflos labern: Ein Interview-Podest auf dem roten Teppich.
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Nicholas Shaffer, Janie Freedman und Chelsea Minton sind Star-Doubles. Sie nehmen die Plätze der Oscar-Kandidaten ein, bevor diese am roten Teppich erscheinen.
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Karen Pugliese aus Chicago (links) und ihre Tochter Rachel sind aus Chicao angereist, um den Star-Aufmarsch am roten Teppich live zu erleben. Sie gewannen ihre Tribünenplätze in einer Lotterie.