
Academy Awards 2012: Die Sieger feiern ihre Oscars
Oscar-Verleihung 2012 "The Artist" und "Hugo" verführen Hollywood
"I love this country", sagte Jean Dujardin etwas gönnerhaft, aber mit charmantem Akzent, als er seinen Oscar als bester Hauptdarsteller entgegennahm. In Hollywood, bei der größten Filmfeier, die Amerika sich und Hollywoods Filmemachern gönnt. Kurz zuvor gewann Dujardins Regisseur Michel Hazanavicius die heißbegehrte Trophäe als bester Regisseur. Und dann wurde sein in Schwarzweiß gedrehter Stummfilm "The Artist" am Ende der Show auch noch als bester Film des Jahres ausgezeichnet. Hollywood verneigt sich vor Franzosen? Hallo, was ist da los!? "In Frankreich drehen die jetzt gerade durch", bemerkte Moderator Billy Crystal dazu nur trocken.
Aber damit nicht genug. Fünf Oscars, ebensoviele wie "The Artist", gewann auch Martin Scorseses 3-D-Märchen "Hugo Cabret", das in einem Pariser Bahnhof spielt und das experimentelle Werk des französischen Leinwand-Pioniers Georges Méliès feiert. Und der Preis für das beste Drehbuch ging an den traditionell abwesenden Woody Allen für seinen Nostalgie-Trip "Midnight in Paris", der, wie der Titel schon sagt, auf mehreren Zeitebenen in der französischen Hauptstadt spielt.
Nostalgie und Frankreich, das sind die Schlüsselworte für diese nicht sonderlich spannende und sehr routinierte Oscar-Show, deren Ergebnisse dennoch viel Stoff zum Nachdenken geben. Da wären zunächst die Franzosen. Zahlreiche Regisseure aus Frankreich waren in 84 Jahren Oscar-Historie nominiert, darunter Jean Renoir, Louis Malle und Francois Truffaut. Keinem dieser Meister gelang jedoch, was der bis dato weitgehend unbekannte Michel Hazanavicius nun mit "The Artist" schaffte. Auch kann man die Filme aus fremden Ländern, die es in die Königskategorie unter die nominierten "Best pictures" schaffe, an zwei Händen abzählen, nur zwei davon kamen aus Frankreich, Renoirs Kriegsfilm "La grande illusion" (1938) und Costa-Gavras' Politthriller "Z" von 1969. Warum nun ausgerechnet "The Artist"?
Die Antwort ist einfach: Weil Michel Hazanavicius, sein Team und sein Hauptdarsteller zwar Franzosen sind, der Film aber komplett in Los Angeles gedreht wurde. Da fällt es leicht, ihn als quasi-amerikanische Produktion zu umarmen, zumal er liebevoll den Hollywood-Stummfilm der zwanziger Jahre auferstehen lässt. Und: Es wird nun einmal nicht gesprochen in "The Artist" - die Sprache der Bilder kennt keine Nationalitäten oder kulturelle Klüfte. Durch diese Magie des Kinos, die natürlich reichlich Freudentränen auf die Mühlen der sentimentalen Academy-Mitglieder fließen lässt, wird der französische Triumph nicht nur möglich, sondern sogar plausibel.
Es ist nicht das erste Mal, dass französische Filmemacher dem stets etwas zu sehr in sich selbst versunkenen Hollywood den Spiegel vorhalten. Die beiden Kino-Kulturen pflegen, seit die Bilder laufen lernten, einen meist fruchtbaren Austausch. Auch der bisher tiefste, revolutionärste Einschnitt, den Hollywood bisher erlebte, der Abschied vom starren Studiosystem zugunsten der kühnen Regisseure des "New Hollywood" in den späten Sechzigern, wurde durch Franzosen initiiert: Es waren die visionären Vertreter der "Nouvelle Vague", die ihre amerikanischen Vorbilder radikal neu deuteten und damit wiederum Peter Bodganovich, Dennis Hopper, Robert Altman oder Martin Scorsese beflügelten.
Mit der Vergangenheit in die Zukunft
Und damit wäre man dann beim zweiten Gewinner dieser Oscar-Nacht: Scorseses "Hugo Cabret", der fünf Preise in technischen Kategorien gewann, unter anderem dank der Frankfurter Firma Pixomondo. 62 Minuten von "Hugo Cabret" enthalten Effekte, die in den Rechnern der Special-Effects-Experten entstanden sind.

Hugo Cabret: Wie das digitale Paris entstand
Scorseses Hommage greift viel weiter zurück als "The Artist" - der ehemalige Hollywood-Rebell, der seine Weltkarriere auf harte Gangster- und Straßendramen gründet, interessiert sich schon lange für die Kinderstube des Kinos. Damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, experimentierten Ingenieure wie die Brüder Lumière oder ehemalige Zauberkünstler wie Méliès mit der jungen Filmtechnik und ließen ihrer Phantasie und ihrem Erfindungsreichtum freien Lauf, um das zu bewirken, was Kino seitdem zu einer solchen Erfolgsgeschichte gemacht hat: eine immer wieder staunenswerte Möglichkeit, die eigenen Träume auf der Leinwand sichtbar zu machen.
Es ist vielleicht zu einfach, die Nostalgieseligkeit, das Schwelgen im Zauber vergangener Zeiten von "Hugo" und "The Artist" als reaktionär und eskapistisch zu verdammen. Es stimmt: Politisches Kino und die harte, ungeschminkte Realität, wie sie ignorierte Filme wie "Shame" bieten, all das hatte in dieser Oscar-Saison keinen Platz, zu sehr ist Hollywood mal wieder mit sich selbst beschäftigt.
Aber vielleicht auch zu Recht. Vor gar nicht langer Zeit kündigte Panavision, eines der Urgesteine der Kinotechnik, an, künftig keine klassischen Kameras mehr bauen zu wollen. Das Kinopublikum, zumal das junge, flüchtet sich in hochgerüstete 3-D-Blockbuster, die auf Comics oder Kinderspielzeug beruhen oder in seichte Schmonzetten und Fantasy-Franchises wie "Twilight" oder "Harry Potter", deren Plots sie bereits in- und auswendig kennen. Die Zuschauerzahlen sind rückläufig, die Zahlen stimmen nur, weil die Tickets für einen 3-D-Film teurer sind als für einen normalen Film. Hollywood steckt in einer seiner tiefsten Krisen und ist gerade erst dabei, sich dessen bewusst zu werden.
Die Ironie dabei: Noch nie in der Geschichte des Kinos standen den Filmemachern so umfangreiche und abenteuerliche Techniken zur Verfügung wie jetzt: Die digitale Revolution und die Neuerfindung des 3-D-Kinos machen es überhaupt erst möglich, Filme wie "The Artist" derart authentisch auf antik zu trimmen, und dass sich Scorsese der 3-D-Technik bedient, um seine Verbeugung vor den Pionieren seiner Zunft zu inszenieren, ist nur konsequent: Genau das hätte Georges Méliès auch getan, wenn er die Mittel gehabt hätte.
Auf der Suche nach der Seele
Um Nostalgie geht es dabei sicher auch, aber nur vordergründig. Immer wieder sind Filmemacher mit dem Wissen und Erfahrungsschatz ihres Zeitgeistes zu den Genres und Formen früherer Zeiten zurückgekehrt, um über den Umweg der Vergangenheit einen Schritt nach vorne zu machen - Jean-Pierre Melville mit seiner Hommage an Hollywoods Schwarze Serie ebenso wie die "New Hollywood"-Rebellen mit ihren Neudeutungen des Western. Regisseure wie Martin Scorsese und Michel Hazanavicius entstammen zwar verschiedenen Generationen, dennoch kann man aus ihren aktuellen Filmen dasselbe herauslesen, wenn man die Patina der Nostalgie wegwischt: In einer Zeit, in der kalte Konfektionsware die Multiplexe überall auf der Welt beherrscht, wollen sie beweisen, dass die neue Technik auch Herz und Seele haben kann, wenn man sie richtig einsetzt. Damals wie heute.
Eine gute und unterhaltsame Oscar-Show kriegt man mit so vielen Überlegungen auf der Metaebene natürlich noch nicht hin. Aber damals wie heute war es gut, Billy Crystal als Gastgeber zu haben, der aus der Routine seiner neunten Oscar-Moderation viel Gelassenheit und Selbstironie schöpfte - und den wie immer gehetzten Reigen der Preisvergaben mit gelungenen Witzen und einigen scharfen Spitzen würzte. Wie er der steifen und belanglosen Ansprache des Academy-Präsidenten Tom Sherak ein zutiefst spöttisches "Mr. Excitement" hinterherschickte, das hatte schon große Klasse.
Ja, es hätte aufregender sein können. Es fehlten Überraschungen (Meryl Streep, war ja klar) und emotionale Höhepunkte (immerhin rührend: Nebendarsteller-Gewinner Christopher Plummer und Octavia Spencer). Es fehlten auch aufstrebende Talente wie Michael Fassbender und Ryan Gosling oder Filme wie "Shame" oder "Drive". Und warum zum Teufel gab es nur einen einzigen Preis für "The Descendants"? Und warum gingen alle nominierten Deutschen leer aus? Man kann nicht alles haben.

Oscar-Fashion: The Good, the Bad and the Beautiful
In Anbetracht der großen kreativen Krise ist es indes schon viel wert, wenn Hollywood mal wieder über den Tellerrand blickt. Am besten nach Frankreich, das hat sich noch immer gelohnt. Man stelle sich vor, ein biederes, tatsächlich tief reaktionäres Stück Erbauungskino wie "The Help" hätte die wichtigsten Preise bekommen, so wie im letzten Jahr "The King's Speech" einen ähnlich verstörenden Siegeszug antrat. Dann müsste man sich wahrlich Sorgen um Hollywood machen.