
Plädoyer für Filmkultur Im Hungerstreik das Kino retten
Ganz am Anfang, nachdem mir klar geworden war, dass ich Filme machen muss, habe ich mir etwas geschworen: Niemals Kollegen öffentlich zu kritisieren oder zu loben. Als Filmemacher steht es mir nicht zu, die Arbeit eines anderen Regisseurs, Autors oder Produzenten zu beurteilen oder sie über die anderer Filmschaffender zu stellen. Denn es ist ein langwieriger, nervenaufreibender Kampf, einen Film zu schreiben, zu finanzieren, zu drehen, fertigzustellen und ins Kino zu bekommen. Jeder Film auf der Kino-Leinwand ist also ein kleines Wunder - und schon allein deshalb prinzipiell zu begrüßen.
Neulich, als ich durch meine Lieblings-Videothek trottete (oder sollte es inzwischen nicht heißen: DVD-thek?), sah ich zu meinem Entsetzen einen Film, von dem ich gehofft hatte, ihn nicht so schnell als deutsche Verleih-DVD im Regal zu erblicken. Kurz vorher hatte ich ihn als englische DVD ausgeliehen, gesehen und dabei inständig gehofft, ihn bald auf der Kinoleinwand genießen zu können. Und da, in der Videothek, als ich mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung das DVD-Cover betrachtete, beschloss ich, für diesen Film mein Gelübde zu brechen.
Die Rede ist von Steve McQueens "Hunger".In den letzten zehn Jahren hat mich kaum ein Film mehr beeindruckt. Der Regisseur Steve McQueen ist ein britischer Performance-Künstler und Gewinner des Turner-Preises. Er gibt meist wirre, blumige Interviews, spricht in Bildern und Metaphern und dürfte hierzulande nur wenigen kunstbegeisterten Intellektuellen bekannt sein. Sein gut 90 Minuten kurzer Film handelt vom wohl wichtigsten Hungerstreik der IRA im Jahre 1981, im berüchtigten Maze Prison nahe der nordirischen Stadt Lisburn. Angeführt wurde der Protest von einem hier in Deutschland völlig unbekannten IRA-Kämpfer namens Bobby Sands (grandios dargestellt vom deutschstämmigen Iren Michael Fassbender, der ab dieser Woche auch in Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" zu sehen ist).
Konsequent, brutal, radikal
Ein fast stummes Gefängnisdrama mit unbekanntem Hauptdarsteller, über einen noch unbekannteren politischen Aktivisten und einen längst vergessenen Hungerstreik im Nordirland der frühen achtziger Jahre - Drehbuch und Regie von einem Performance-Künstler ... Du meine Güte, wen soll das heute schon interessieren? Da ist doch jetzt Frieden, oder? Nordirland, so scheint es, ist absolut out. Mit einigen wenigen Kopien ist "Hunger" erst jetzt, anderthalb Jahre nach seiner Premiere und einige Wochen nach seinem DVD-Start, in die deutschen Kinos gekommen. Das ist besser als nichts, aber hätte der Film nicht weit mehr verdient?
Denn "Hunger" ist konsequent, brutal und radikal. Er übernimmt die Kontrolle über Augen, Kopf, Herz und Eingeweide des Zuschauers. McQueen gelingt, wie wenigen Regisseuren in den letzten Jahren, eine sinnliche Fusion von Inszenierung, Schauspiel, Bildkomposition und Tongestaltung, die den Zuschauer in den Bann zieht, ihn das Raum- und Zeitgefüge vergessen, stattdessen die Erfahrung eines irischen Gefängnisses in dieser Zeit sozusagen am eigenen Leib spüren lässt. Dieser Film zieht einen körperlich in eine verstörende, nachhaltig wirkende Mitleidenschaft. Eine Erfahrung.
Lange Stille, dann ein regelrechter Wortschwall
McQueen vergleicht den emotionalen Verlauf des Filmes mit dem eines Flusses, der Stromschnellen bekommt und in einen Wasserfall mündet. Nach knapp einer Stunde nahezu ohne Dialog ergießt sich dieser auch - in einem gewaltigen, nicht enden wollenden Wortschwall über den Zuschauer: In einer 22-minütigen Szene im Besucherraum, von der die ersten 17 Minuten in einer einzigen Einstellung gedreht wurden, diskutiert und streitet sich Bobby Sands mit dem irischen Pater Moran (Liam Cunningham). Zwei Männer in der gleichen Disziplin, die das Gleiche wollen, aber mit unterschiedlichen Mitteln.
In einer anderen Szene wird gezeigt, wie Sands von mehreren Wachmännern mit aller Gewalt die Haare geschnitten werden. Es durchfährt einen wie ein Stromstoß, wenn die riesige Textilschere an Sands' Kopf geht, zuschnappt, ihm büschelweise Haare gestutzt und rausgerissen werden. Kurz darauf werden die Insassen nackt, wie Vieh, durch eine Horde bewaffneter Spezialeinheiten getrieben. Ein Spießrutenlauf durch wild gewordene, Knüppel-schwingende Polizisten. McQueen erzählte in einem Interview, dass diese Szene real gedreht wurde, mit echten Knüppeln wurde auf Schauspieler eingedroschen. Wie sonst, so meinte er, hätte man das denn überzeugend darstellen sollen?
Bilder wie in Abu Ghraib
Der Hauptdarsteller Michael Fassbender verlor während der Drehzeit unter ärztlicher Aufsicht 40 Pfund Gewicht. Man hat im Film das Gefühl, ihm beim Sterben zuzusehen. Es tut weh, und das soll es auch. Denn was man in "Hunger" zu sehen bekommt, hat sich vor 28 Jahren ziemlich genau so zugetragen, hier im zivilisierten "old europe". Der Film zeigt somit auch, ohne es auszusprechen, dass Folter und Unterdrückung nichts Neues sind, sondern fast schon ein fester Bestandteil menschlicher Geschichte und menschlicher Wesenszüge, in dieser, wie in allen Dekaden des vergangenen Jahrhunderts.
Keine Frage, der Film ist aktuell wie nie. In einer Szene sieht man einen der Insassen, der mit seinen Exkrementen ein Bild an eine Wand gemalt hat. Wunderschöne, hypnotische Höhlenmalerei, aus Scheiße. (Diese Form des Widerstands wurde auch "schmutziger Protest" genannt.) Nicht nur diese Szene erinnert automatisch an die uns allen bekannten Bilder aus Abu Ghraib und Guantanamo Bay.
Der eigene Körper als Waffe
Aber vor allem ist "Hunger" eine strapazierende, zehrende Dauer-Beanspruchung der Sinne des Zuschauers. McQueen wollte den Klang dieses berüchtigten "H-Blocks" in Maze einfangen, wie er aussah, roch und sich anfühlte, in den letzten sechs Wochen des 66 Tage andauernden Hungerstreiks von Bobby Sands, ehe er am 5. Mai 1981 verstarb.
Ein sinnliches Erlebnis, das man nicht in Geschichtsbüchern nachlesen kann oder in TV-Dokumentationen findet. Bobby Sands blieb ab einem gewissen Punkt nur noch der eigene Körper als die einzige Waffe. McQueen fragt in einem seiner Interviews: "Gibt es eine schlimmere Art zu sterben, als sich selbst zu Tode zu hungern?"
Kino durch die Augen eines Filmemachers erleben
Und wir? Hungern wir gerade unsere Kinos, unser Medium zu Tode? Paralysiert durch Konsum-betäubtes, unterwürfiges Erwarten der nächsten technischen Errungenschaft? Was ist die letzte Waffe von uns Filmemachern im Kampf gegen das Kinosterben und den digitalen Hype? Vielleicht ist es, ähnlich wie bei Bobby Sands, ein Hungerstreik? Auf jeden Fall sollten wir aufhören, die von der Filmindustrie oktroyierten Trends unverdaut zu schlucken.
Film, so McQueen, ist eine erst 115 Jahre junge Kunst, im Vergleich zur Malerei mit ihrer mehrere tausend Jahre langen Tradition. Haben wir wirklich schon alle narrativen, kompositorischen und sonstigen uns zur Verfügung stehenden filmischen Mittel erforscht und ausgeschöpft? Sind wir wirklich mit unserem cineastischen Latein am Ende, so dass wir nur noch auf neue, technische "Wunderwaffen" hoffen können?
Wir haben uns, so scheint es, fast ganz aus dem Kino entfernt und das Feld den Technikern und BWLern überlassen. Ständig höre ich Statistiken und Prognosen, wie viele Kinos bis wann auf 3D umgerüstet werden. Was bringt uns das? Bessere Filme? Wohl kaum. Es gibt genug außergewöhnliche Filme, die es aber leider immer öfter nicht ins Kino schaffen. Und genau für diese Filme sollten wir uns einsetzen, darüber sollten wir reden, diskutieren, streiten, dafür streiken, wie Bobby Sands, physisch. Für unsere eigenen Filme haben die meisten von uns Filmemachern ja schon gehungert.
Hunger nach außergewöhnlichen Geschichten
Wenn wir, die Filmemacher, uns nicht um Filme, also um unser Medium kümmern, wer dann? Das viele Geld kann doch nicht nur in neue Technologien gesteckt werden. Warum nicht auch in die Verbreitung und in neue Formen der Darbietung bereits existierender Filme? Der Appetit der Kinobesucher nach technischen Neuerungen wird bald gestillt sein. Doch der Hunger nach außergewöhnlichen Geschichten, die auf außergewöhnliche Art und Weise erzählt werden, hält seit Jahrtausenden an.
Letztes Jahr, als Quentin Tarantino in Babelsberg drehte, schwärmten dauernd Leute, wie filmbegeistert und -versiert er doch sei, welch ein Genuss es wäre, von ihm persönlich einen Film vorgeführt zu bekommen. Wie toll seine Ansprachen bei diesen privaten Team-Vorführungen wären und mit wie viel Liebe er sich um aussterbende Genres kümmere. Wir können das auch.
Die deutschen und türkischstämmigen Kollegen, Regisseure, Autoren und Produzenten, die ich kenne, sind allesamt Filmnarren, die, wenn sie ins Schwärmen über einen Film geraten, nicht mehr aufhören können. Warum können wir nicht ein kleines Filmfestival durchs Land schicken, mit all den Perlen, die es nicht ins Kino geschafft haben? Ein modernes Wanderkino, wie es uns Tilda Swinton gerade vormacht, die mit selten zu sehenden Filmen durch ihre schottische Heimat zieht. Mir schwebt eher ein jährlicher Kanon vor, sagen wir mal, zwölf Regisseure suchen je einen Film aus. Und dieses Dutzend Filme wandert ein Mal im Jahr, in einem bestimmten Monat, von Stadt zu Stadt.
Den Raum zurückerobern
Durch annehmbare Eintrittspreise sollte man versuchen, die Säle zu füllen, so dass die Filme ihre volle Wirkung entfalten können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich für ein solches Vorhaben keine Kinobetreiber begeistern werden. Und sicher findet sich auch ein Verleih, der die Organisation übernimmt. In jeder Stadt könnte einer der Regisseure (oder mehrere) anwesend sein und seinen Film persönlich ankündigen. Filmemacher, die nicht vor Ort sind, könnten per Videobotschaft zu Wort kommen. Die Zuschauer könnten Kino durch die Augen eines Filmemachers erleben.
Aber dafür, liebe Kollegen, müssen wir uns wieder ins Kino begeben, es besetzen und erfüllen, um diesen, unseren Raum zurückzuerobern, und zwar mit physischer Präsenz. Wir alle müssen uns gemeinsam ums Kino kümmern. Meine persönliche Empfehlung für die erste Rolle steht auf jeden Fall schon fest: "Hunger" von Steve McQueen.