Proletarier-Komödie "Boxhagener Platz" Der Sex-Appeal von Oma Otti

Die Kerle sind verrückt nach ihr - und sterben ihr doch unterm Kochlöffel weg: Matti Geschonnecks Film "Boxhagener Platz" erzählt mit leiser Komik vom Liebesleben einer Großmutter. Was als Ostberliner Milieustudie anfängt, entwickelt sich bald zum Abgesang auf die Arbeiterklasse.
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"Boxhagener Platz": So schmeckt der Osten

Foto: Pandora Film

Ihre Kerle sterben wie die Fliegen, aber damit hat sie sich schon lange arrangiert. Regelmäßig besucht Oma Otti (Gudrun Ritter) das Grab vom Gatten Nummer fünf, daheim siecht im Ehebett Gatte Nummer sechs dahin. Der Granatsplitter aus dem Krieg wandert mal wieder. Nicht schlimm für Otti, denn sie hat bereits den potenziellen Gatten Nummer sieben (Michael Gwisdek) im Visier, einen attraktiven Witwer, der gerade das Trinken aufgeben hat. Der kommt ihr denn auch auf dem Friedhof mit einem durchsichtigen Anliegen: "Können sie meine Frau mit gießen?"

Ganz klar ein Flirtversuch, wie die Alte ihrem Enkel Holger (Samuel Schneider) erläutert. Hausmannskost und Lebensweisheiten gibt es für den 12-Jährigen bei Oma Otti reichlich. Zu "Koch-Klopsen aus Leipzig" oder "Gräupchen à la Rudi" erläutert sie ihm, wie das läuft mit den Männern und den Frauen.

Dass sie im Ostberliner Arbeiterviertel Friedrichshain den einen oder anderen Verehrer hat, daraus macht sie am Mittagstisch keinen Hehl. Aus dem Schlafzimmer hört man derweil den Gatten Nummer sechs röcheln - ein Art letztes Aufbegehren des Todgeweihten gegen die Anbändeleien seiner noch höchst vitalen Ehefrau.

1968 steht die Welt Kopf, am Boxhagener Platz aber geht es auf den ersten Blick sonderbar beschaulich zu. Ein paar hundert Meter jenseits der Mauer toben in West-Berlin die Studentenunruhen und in der Tschecheslowakei wird gerade der Prager Frühling mit Waffengewalt beendet. Die "Revolution" beim kapitalistischen Nachbarn, die niedergeschlagene "Konterrevolution" im sozialistischen Bruderstaat - das alles hallt hier nur in Form von heimlich gehörten Westfernsehnachrichten oder siegesgewisser Ostpropaganda, der sowieso niemand Glauben schenkt, in die Wohnstuben.

Doch dann wird der Fischhändler - ein alter Nazi, wie es heißt - erschlagen in seinem Laden aufgefunden. Und auf einmal gehen Bekennerschreiben von einer ominösen "Kommune 25" aus Westberlin ein, die mit der Ermordung angeblich auch mal hinter dem Eisernen Vorhang ein politisches Zeichen setzen wollte.

"Kommune 25"? Ick glob, mir laust der Affe! Deutet doch alles daraufhin, dass der Mörder aus der nächsten Nachbarschaft des Opfers stammt. Oma Ottis Neuer, der schon in den Zwanzigern beim Spartakusbund fürs Proletariat kämpfte, hat jedenfalls nichts dagegen, dass der braune Fischkopp das Zeitliche segnete.

Ein Milieufilm ist "Boxhagener Platz" geworden, mit all dem burschikosen Personal, das dazu gehört - also einbeinigen Trinkern und vorlauten Ladenbesitzern, kleingeistigen Schlägern und großherzigen Müttern, verzagten Malochern und wichtigtuerischen Wachtmeistern. Von der Leinwand herab duftet es nach "Karpfen Spreewälder Art" und nach Eierlikör; mit dieser Mangelwirtschaft, so scheint's auf den ersten Blick, lässt es sich gut leben. Schön war die Zeit! War die Zeit schön?

Das Sagen hat am Ende die Stasi

Regisseur Matti Geschonneck, 57, ist an den Ort seiner Jugend zurückgekehrt. Nicht viel älter als der pubertäre Held seines Filmes war er, als er Ende der sechziger Jahre selbst am Boxhagener Platz aufwuchs. Sein Vater war der Defa-Star Erwin Geschonneck ("Das Beil von Wandsbek") - was den Junior später freilich auch nicht daran hinderte, mit den DDR-Behörden aneinanderzugeraten. In Folge der Biermann-Ausbürgerung ging Matti Geschonneck Ende der Siebziger in den Westen.

Nach der Wende avancierte er zu einem der profiliertesten Fernsehregisseure Deutschlands. Interessanterweise handelten viele seiner TV-Filme von ausgesprochenen West-Themen. "Mord am Meer" etwa war ein 68er-Erinnerungslabyrinth, in "Die Nachrichten" nach dem Roman von SPIEGEL-Redakteur Alexander Osang wurde die klassische Hamburger Medienwelt bespiegelt, und Geschonnecks jüngster Krimi-Zweiteiler "Entführt" (gerade mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet) erzählte vom Ende des alten bundesrepublikanischen Geldadels.

Für "Boxhagener Platz", sein spätes Kinodebüt, hat der Regisseur nun zum ersten Mal ein explizites Ost-Sujet ausgesucht. Die Romanvorlage von Torsten Schulz (schrieb auch das Drehbuch) mochte bei Geschonneck Kindheitserinnerung heraufbeschworen haben. Alles scheint hier auf den ersten Blick so knuffig, das Böse hat hier offensichtlich keinen Platz. Ein akuter Fall von Ostalgie?

Nein, keineswegs. "Boxhagener Platz" ist keine zweite "Sonnenallee" geworden. Statt einem peppigen Erinnerungs-Musical wird hier eher eine Elegie aufs Sterben des Proletariats geboten. Hier bäumen sich noch einmal alte Spartakisten auf; hier erheben sich dahinsiechende Malocher von ihrem Totenbetten, um letzte Schlachten zu schlagen. Nützt natürlich alles nichts. Das Sagen haben auch am Boxhagener Platz längst die adretten Beamten der Staatssicherheit, die den lautstark auftretenden Kiezkumpels mit ausgesuchter, gelegentlich auch schmerzvoll praktizierter Höflichkeit ihren Platz im neuen Sozialismus zuweisen.

Das ist ja die bittere Ironie dieser Geschichte (sowie der Geschichte überhaupt): dass die Arbeiterklasse ausgerechnet im ihr zu Ehren gegründeten Arbeiterstaate vor die Hunde geht. So erweckt "Boxhagener Platz" in schönsten braunstichigen Bildern und mithilfe vieler grandioser alter Defa-Schauspieler (Neben Ritter und Gwisdek brillieren Hermann Beyer und Hans Uwe Bauer) das Milieu einer vergangenen Zeit zu Leben - um es sogleich in einen Todeskampf zu schicken.

Alles stirbt? Nicht ganz. In der Proletarier-Dämmerung scheint eines nur umso heller zu strahlen: Oma Ottis rustikaler Sex-Appeal.

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