
Film-Essay "Der Schmetterlingsjäger": Ein unlösbares Puzzle
Film-Essay "Der Schmetterlingsjäger" Neu geformt zu Menschenbrei
Oft wird lamentiert, dass sich das Kino dem Geschmack von 15-jährigen Comic-Fans geopfert habe. Immer wieder neue Superhelden-Spektakel, Fortsetzungen von alten Superhelden-Spektakeln, gern auch Roboter-Spektakel, Zombie-Spektakel, Außerirdischen-Spektakel. Die Spektakel-Kultur hat die Multiplexe und ihr Publikum im lauschigen Würgegriff, und von Programmkino spricht man heute manchmal schon, wenn der neue Tom-Cruise-Film im Original mit Untertiteln läuft.
Andererseits: Was gibt es gegen ein gutes Spektakel einzuwenden? Und kann es um das Kino wirklich so schlecht bestellt sein, wenn am deutschen Starttag von Michael Bays neuem "Transformers"-Bombast auch ein zweieinhalbstündiger Film-Essay über das Zeitverständnis des russischen Schriftstellers Vladimir Nabokov anläuft?
Ja, es gibt Menschen, die machen Filme über das Zeitverständnis von Vladimir Nabokov. Oder wenigstens gibt es einen, nämlich den deutschen Regisseur Harald Bergmann. Der ist so etwas wie der Michael Bay der deutschen Kunstkino-Szene: ein Extremist seines Genres, der sich nicht darum schert, was andere Leute für vernünftiges Kino halten. So wie Bay sein Publikum mit immer noch schnelleren Schnitten, noch gigantischeren Explosionen, noch teureren Effekten traktiert, um alle Sinne zu überfordern, versucht Bergmann im Grunde das Gleiche mit den scharfen Waffen eines Hardcore-Intellektuellen.
Früher beschäftigte sich der Regisseur vor allem mit Hölderlin und Rolf Dieter Brinkmann. Jetzt Nabokov. Aber eine klassische Nabokov-Biografie, die sich vielleicht sogar auf dessen größten Erfolg "Lolita" bezieht? Viel zu einfach. Die Grundlage von "Der Schmetterlingsjäger - 37 Karteikarten zu Nabokov" ist ein Kapitel in Nabokovs spätem Roman "Ada oder das Verlangen", das "Die Textur der Zeit" heißt und sich genau damit beschäftigt. Dazu mischt Bergmann ein paar Motive aus Nabokovs Autobiografie "Erinnerung, sprich" unter und fügt Stücke aus der schlecht gelaunten Interview-Sammlung "Deutliche Worte" hinzu.
Immerhin interessante Fakten über Nabokov als Kleinkind
Keine Spur von "Lolita". Keine Spur von einer narrativen Struktur. Gesprochen wird Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch und natürlich Latein. Es gibt nachgestellte Szenen aus Nabokovs Kindheit, nachgestellte Interviews mit dem Autor, einen Off-Kommentar von Nabokovs einzigem und mittlerweile verstorbenem Sohn Dimitri, echte Gespräche mit Zeitzeugen, Ausflüge an echte Wirkungsstätten - und ein improvisiertes Gespräch zwischen dem echten Philosophen Heinz Wismann und dem echten Filmemacher Klaus Wyborny, die einen Philosophen und einen Filmemacher spielen, die sich darüber unterhalten, wie man einen Film über Vladimir Nabokovs Auffassung von Zeit aufziehen könnte.
Frei nach Godard gibt es womöglich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber mit Sicherheit nicht in dieser Reihenfolge. "Der Schmetterlingsjäger" ist ein Puzzle, das es darauf anlegt, nicht im ersten Versuch lösbar zu sein. Manche Teile passen nicht zusammen, und andere fehlen völlig, aber viel mehr als um ein kohärentes, fertiges Bild geht es hier um den Versuch des Zusammensetzens, der an sich schon zur Erkenntnis führen soll.
Ob er das wirklich tut, ist eine andere Frage, und ernsthaft folgen können werden dem Ganzen auch nur die konzentriertesten Nabokov-Jünger unter den Kino-Gängern. Den meisten anderen - wie mir zum Beispiel - wird "Der Schmetterlingsjäger" wie ein überlanges, frustrierendes, undurchdringliches Rätsel vorkommen. Und am Ende bleiben nur wenige Erkenntnisse haften. Aber vielleicht lohnen die schon den Kinobesuch: dass Nabokov als Baby zum Beispiel fast von einer Ananas aus Stuck erschlagen wurde; dass Schmetterlinge sich eigentlich auf jeden ruhig gehaltenen Finger setzen, sofern er nicht stinkt; dass Nabokov eigentlich nur sich selbst für seinen einzigen ernst zu nehmenden Leser hielt; dass sich Heinz Wismann und Klaus Wyborny bei aller brillanten Gedankenspielerei zum Thema Zeit einen Hang zur Selbstironie bewahrt und stets Schabernack im Sinn haben ("Okay, das reicht, länger kann ich Sie nicht reden lassen"). Irgendwann, so nach den ersten 90 oder 100 Minuten vielleicht, fängt das alles auf ganz seltsame, befreiende Weise an, Spaß zu machen.
Vielleicht ist das nur ein Schutzmechanismus des Körpers gegen übermäßige geistige Überforderung. Funktioniert aber. Dieser Film will einen wie eine intellektuelle Dampfwalze überfahren, die Reste einsammeln und als neu geformten Menschenbrei wieder ausspucken. Ein Spektakel im besten Sinne.
Filmangaben:
Der Schmetterlingsjäger - 37 Karteikarten zu Nabokov. Start: 17.7. Regie: Harald Bergmann.