Edward-Hopper-Film "Shirley" Was denkt die Frau wohl?

Edward-Hopper-Film "Shirley": Was denkt die Frau wohl?
Foto: RendezvousDer Regisseur Wim Wenders, ein glühender Bewunderer des Malers Edward Hopper, hat einmal behauptet: Die Gemälde des großen amerikanischen Realisten laden uns dazu ein, ein Vorher und Nachher hinzuzudenken und sie in unserer Einbildung zu Filmszenen zu erweitern. Ein charmanter Gedanke. Liegt nicht tatsächlich ein Reiz der Hopper-Gemälde in ihrer Unbestimmtheit?
Auf seinen Bildern zeigt Hopper selbstvergessene Figuren in einer wortkargen Welt, häufig in Tätigkeiten versunken, noch häufiger in Gedanken verloren. Oft blicken sie in eine Sphäre jenseits des Bildes, was sie dort sehen, weiß der Betrachter nicht. So kommen Hoppers Gemälde Bilderrätseln gleich: Sie fordern unablässig zum Denken und Weiterspinnen heraus.

Filmexperiment "Shirley": Bilderrätsel vom Meister
Der Wiener Filmemacher Gustav Deutsch hat mit seinem experimentellen Spielfilm "Shirley - Visionen der Realität" nun jenem Impuls nachgegeben, den Wenders vermutlich mit vielen Hopper-Verehrern teilt: festzulegen, was in diesen Bildern vor sich geht, wie sich die hopperssche Welt anhören könnte, was die Figuren bewegt. Deutsch hat 13 Gemälde Hoppers genommen und sie mit bestechender Präzision in Kinobilder verwandelt. Das Statische kommt so in Bewegung, die Stille wird mit Klang gefüllt, das Unbestimmte erhält eine Bedeutung.
In allen 13 Tableaux vivants taucht eine amerikanische Theaterschauspielerin namens Shirley (Stephanie Cumming) auf, für die Deutsch eine Handlung erfunden hat, die vom Depressionsjahr 1931 bis zum Bürgerrechtsjahr 1963 reicht. Wir hören ihre Gedanken als inneren Monolog. Wir lauschen dem Großstadtverkehr vor den Fenstern. Nur die Beziehung zu ihrem Lebensgefährten Stephen (Christoph Bach) bleibt stumm: Die beiden wechseln kein einziges Wort miteinander. Eingeleitet werden die 13 Szenen mit Radionachrichten des jeweiligen Tages, zu sehen ist währenddessen nur: Schwarz.
Trivial Pursuit für den kultivierten Kinogänger
Der Film wirkt auf den ersten Blick simpel. Die Kamerabewegungen sind minimal. Die Figuren bewegen sich kaum. Schnitte gibt es nur wenige, wenngleich Deutsch die hopperschen Bildkompositionen immer wieder in einzelne Ausschnitte zerlegt. Der beinahe meditativen Einfachheit schiebt der Regisseur aber schon in der ersten Szene einen Warnhinweis unter: In einem Zugabteil sieht man Shirley einen Gedichtband von Emily Dickinson lesen, und auf dem Einband des Buches findet sich ein Edward-Hopper-Gemälde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte dem Zuschauer klar sein, dass er besser achtsam bleibt.
Auf der einen Seite deutet Deutsch das Uneindeutige in Hoppers Malerei. Andererseits fügt er den Gemälden durch das Medium Film eine Dimension hinzu, mit der das Rätselhafte in anderer Form zurückkehrt: die Zeit. Das zeitliche Vorher und Nachher erzeugt beim Zuschauer nämlich eine eigentümlich kunstvoll-kontemplative Spannung, die nach einer Antwort verlangt auf die Frage: In welchem Sekundenbruchteil wird die Filmszene exakt mit der Darstellung des Gemäldes übereinstimmen?
Zudem durchlöchert Deutsch die Handlung mit zahllosen Ellipsen. Der Zuschauer muss zum Puzzle-Spiel ansetzen, um die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Und schließlich schwimmt im langsamen Strom des Films auch noch eine derartige Menge bildungsbürgerlichen Treibguts mit, dass der Film bisweilen wie Trivial Pursuit für kultivierte Kinogänger wirkt. Vor allem die amerikanische Theatergeschichte spielt eine wichtige Rolle - von den US-Theatergruppen Group Theatre und Living Theatre bis zu Elia Kazans Premiereninszenierung von Thornton Wilders "Wir sind noch einmal davongekommen".
An einer Stelle verlebendigt Gustav Deutsch Hoppers "Excursion into Philosophy" (1959). Dabei liest Shirley das Höhlengleichnis aus Platons "Politeia", das schon oft als Sinnbild für den Kinogänger und seine Verblendung durch die Illusionsmaschine Film diente. Der Film spielt damit noch einmal subtil auf die enge Verbindung zwischen Hopper und dem Kino an. Einerseits hat der filmbegeisterte Maler in Bildern wie "New York Movie" (1939) und "Intermission" (1963) - die auch bei Deutsch vorkommen - seiner Kinoleidenschaft Ausdruck verliehen. Andererseits hat sein Stil zahllose Regisseure beeinflusst: von Alfred Hitchcock und David Lynch bis Jim Jarmusch, Roy Andersson und Wim Wenders. Mit "Shirley" hat Gustav Deutsch der engen Beziehung zwischen Hopper und Kino nun ein faszinierendes Kapitel hinzugefügt.
AT 2013
Originaltitel: Shirley: Visions of Reality
Buch und Regie: Gustav Deutsch
Darsteller: Stephanie Cumming, Christoph Bach, Florentín Groll, Elfriede Irrall, Tom Hanslmaier
Produktion: KGP Kranzelbinder Gabriele Production et al.
Verleih: Rendezvous Filmverleih
Länge: 92 Minuten
Start: 18. September 2014