"Sommer 04" Urlaub ohne Ausweg

In "Sommer 04" nehmen Stefan Krohmer und Daniel Nocke gnadenlos das deutsche Mittelstandsleben unter die Lupe. Martina Gedeck brilliert in einem Generationenkonflikt vor sommerlicher Kulisse.

So fangen Familienurlaube doch nicht an. Der Kombi steht schon lang vor der Tür, die Eltern haben sich schon im Sommerhaus an der holsteinischen Schlei eingerichtet, da treffen ihr 15-jähriger Sohn und seine 12-jährige Freundin auf ihren Fahrrädern ein. Ein Familienauto, in dem keine Familie gefahren ist. Eltern, die die Freundin ihres Sohnes im gemeinsamen Sommerurlaub zum erstenmal treffen. Die Verunsicherung ist von der ersten Szene von "Sommer 04" da und hält sich den gesamten Film über: Was für Menschen sind das, die hier aufeinander treffen? Was wissen sie voneinander? Und was wollen sie überhaupt voneinander wissen?

In ihrem siebten gemeinsamen Film nehmen sich die Grimme-Preisträger Stefan Krohmer (Regie) und Daniel Nocke (Drehbuch) wieder einer Station eines deutschen Mittelstandslebens an. In "Ein toter Bruder", ihrem jüngsten Fernsehfilm, war es ein Klassentreffen, das sie vom Fanal über Lebensläufe zum Fanal über Leben und Tod an sich steigerten. In "Sie haben Knut", ihrem jüngsten Kinofilm, war es ein Skiurlaub unter Freunden, den sie gekonnt zum Sinnbild einer Gesellschaft im Schwebezustand zwischen Siebziger-Jahre-Kollektivismus und Achtziger-Jahre-Individualismus überhöhten. In "Sommer 04" ist es nun der Familienurlaub, dessen inhärenten Generationenkonflikt sie sexuell so aufladen, bis sich die Figuren ihrer Eltern- und Kinderrollen entledigen und sich bis auf ihre ureigensten Bedürfnisse entblößt gegenüber treten.

"Ich schätze Filme mit interessanten Situationen", sagt Autor Nocke. "Wenn ich selbst aus einem Film komme und mich frage, ob er gut war, frage ich mich meistens, ob er gute Situationen hatte. Das interessiert mich mehr als der reine Plot." So ist "Sommer 04" auch weniger die Erzählung als der Eindruck eines Sommers. Gerade durch das Fehlen einer narrativen Stringenz entwickeln die Szenen aber eine innere Spannung untereinander - bis die verblüffende Wendung am Ende dann doch den Blick auf eine unterschwellige Geschichte frei gibt.

Die frühreife Freundin des eigenen Sohnes

Schon wieder kommt jemand allein zurück. Sohn Nils (Lukas Kotaranin) ist mit seiner Freundin Livia (Svea Lohde) segeln gewesen, kehrt aber ohne sie heim: Sie haben am Hafen den Amerikaner Bill getroffen, mit dem Livia nun den Rest des Tages verbringt. Die Eltern Miriam und André (Martina Gedeck und Peter Davor) sind irritiert und ihre Irritation wächst, als Bill Livia schließlich nach Hause bringt. Bill (Robert Seeliger) ist um die 30, sieht blendend aus, fährt einen imposanten Sportwagen und scheint die minderjährige Livia tatsächlich als ebenbürtig zu akzeptieren.

Noch überwiegt Miriams Respekt vor dem Mädchen und dessen Frühreife, doch er kippt, als Livia am nächsten Abend mitteilen lässt, dass sie bei Bill in seinem Haus bleibt. Verantwortungsgefühl verdrängt in Miriam die demonstrative Gelassenheit und lässt sie ins Auto steigen, um Livia in Bills Haus aufzusuchen. In dessen Landhaus, das mehr Baustelle als Anwesen ist, trifft sie auf eine Szenerie der Ambivalenz. Bill und Livia haben sich gestritten, doch wer hier wessen Erwartungen enttäuscht hat, ist nicht klar. Mühsam versucht Miriam herauszufinden, was passiert ist - und sich der Anziehungskraft des scheinbar sorglosen Bills zu entziehen. Noch ist es ihr nicht bewusst, doch in diesem Moment wird Livia zu mehr als nur der Freundin ihres Sohnes. Sie ist noch immer Miriams Schutzbefohlene, nun ist sie aber auch ihre Konkurrentin.

Mit vorgeschobenem Becken und hängenden Schultern verleiht Martina Gedeck ihrer Miriam eine ebenso träge wie aggressive Erotik. Wie schon in "Das Leben der Anderen" und "Elementarteilchen" entwickelt Gedeck dabei eine physische Präsenz, wie sie momentan keine zweite deutsche Schauspielerin auf der Leinwand aufzubauen weiß. Ihr Körper drängt sich in die Bilder und zwischen die Menschen, und lässt doch keine Sinnlichkeit oder Romantik zu.

Ein Film ohne Exit-Option

Neben der konstant grandiosen Gedeck beweisen Krohmer und Nocke aber auch bei den anderen Besetzungen Souveränität über ihre Figuren. So war der Kanadier Robert Seeliger bislang im deutschen Fernsehen nur in der Sat.1-Schmonzette "Miss Texas" zu sehen, bei deren Dreharbeiten er Kollegin Natalia Wörner kennen lernte und fortan als Mann an ihrer Seite in deutschen People-Magazinen auftauchte. Als Bill legt er nun eine so eigene Mischung aus Unbedarftheit und Verschlagenheit an den Tag, dass man fast daran zweifelt, ob er sie tatsächlich spielt.

"Bei diesem Film ist es die absolute Freiheit gewesen. Wir konnten ihn genauso machen, wie wir wollten - bis hin zur Besetzung", sagt Regisseur Krohmer. "Daniel hat das Buch ganz allein geschrieben, ohne den Einfluss von Redakteuren oder Produzenten. Die erste fertige Fassung, die wir herausgegeben haben, hat sich im Prinzip so gut wie nicht mehr geändert. Das führte zu einer Klarheit, einer Geschlossenheit, die alle Beteiligten - auch mich - schnell überzeugt hat."

Tatsächlich ist "Sommer 04" ein Film ohne Exit-Option geworden. Das Konfliktgeflecht zwischen Eltern und Kindern, Liebhaber und Geliebter wird immer enger, ohne dass man benennen könnte, an welchen Fäden Krohmer und Nocke nun genau ziehen. So bleibt am verstörenden Schluss bei aller Unsicherheit nur eine Gewissheit: So endet doch kein Familienurlaub.

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