
"Sorry Angel": Liebe auf Distanz
Schwules Coming-of-Age Erste Liebe, letzte Liebe
Christophe Honoré hasst dieses Klischee: Da muss der schöne schwule Junge aus der Provinz in die Großstadt gehen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen - und dafür den Preis zahlen, seine Träume allzu schnell an eine oft zynische Realität anzupassen.
Dabei ist es Honoré selbst so ergangen. Mitte der Neunziger brach er von Rennes nach Paris auf und machte sich erst als Romanautor und Filmemacher, schließlich auch als Opern- und Theaterregisseur einen Namen.

Christophe Honoré (Mitte) mit seinen Hauptdarstellern Pierre Deladonchamps (links) und Vincent Lacoste
Foto: ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/ AFPUnd auch Arthur (Vincent Lacoste), der Hauptfigur in Honorés neuem Spielfilm "Sorry Angel", ergeht es so: Der träumt mit 22 in Rennes vom Künstlerleben in Paris, seine Helden sind Hervé Guibert und Bernard-Marie Koltès, und er verliebt sich in Jacques (Pierre Deladonchamps), den um einiges älteren Literaten aus der Hauptstadt. Am Ende beschließt Arthur, selbst den abenteuerlichen Schritt ins eigene Künstlerleben und in die große Stadt zu wagen.
Was Honorés Variation des klassischen Themas so besonders macht, sind drei wesentliche Abweichungen: Sein jugendlicher Held weiß genau, auf welches Abenteuer er sich einlässt - im Leben wie in der Liebe. Gleichzeitig darf er ein Träumer bleiben, dessen Ideale am Ende des Films längst nicht desillusioniert werden.
"Zu alt, um jung zu sterben"
Viel wichtiger aber: der Film spielt in einer besonderen Zeit, Mitte der Neunzigerjahre, in der schwule Sexualität untrennbar mit Aids verknüpft ist, und die Männer, die man in der Provinz als Rollenvorbilder für ein wildes, befreites Leben entdeckt hat, sind bereits an der Krankheit gestorben: Koltès 1989, Guibert 1991. Auch Jacques, Arthurs erste große Liebe, ist HIV-positiv und weiß: Wenn er sich auf Arthur einlässt, wird es seine letzte Liebe sein.
"Sorry Angel" springt zwischen den beiden Helden, den beiden Lebensentwürfen bis zu ihrem Widersehen hin und her: zwischen der Bretagne und Paris, zwischen Arthurs Träumen und Jacques' Verletzungen, zwischen Lebensfreude und Todesahnung. Vincent Lacoste strahlt selbstbewusst den Aufreißer aus, der in Cruising-Choreografien und offenherzigen Diskussionen mit seiner besten Freundin seine Zukunft ausmalt. Pierre Delandonchamps legt währenddessen seine Figur fast als ältere Ausgabe des Jungen an, ein vielschichtiges Porträt eines sich nah am Zynismus bewegenden Menschen, der "bereits zu alt ist, um jung zu sterben".

"Sorry Angel": Liebe auf Distanz
Die 1990er Jahre werden durch Songs und wenige historische Details evoziert als eine Zeit, die schwule Männer völlig anders erlebt haben als viele Menschen um sie herum - ein großes Kinothema, das zuletzt Robin Campillo in "120 BPM" aufgegriffen hat, der ein Jahre zuvor ebenfalls im Wettbewerb von Cannes für Aufmerksamkeit sorgte.
Ihre Liebe ist der Refrain
Im Gespräch in Berlin erzählt Honoré von den traumatischen Erfahrungen dieser Zeit: "Meine Generation von schwulen Künstlern konnte, wenn sie zurücksah, nur auf eine Reihe von Gräbern blicken. Und die eigene Sexualität auszuleben hieß, für die Gesellschaft eine Bedrohung darzustellen. 'Risikogruppe' ist ein scheußliches Wort, damit möchte man sich mit 16, 17 nicht identifizieren."
Trotzdem stürzt sich sein Held Arthur furchtlos ebenso in die bereits vom Tod gezeichnete Liebe wie in die Literatur, also in ein großes sinnliches Abenteuer. Honorés Kino ist in seiner Grundstruktur musikalisch. Einstellungen korrespondieren in "Sorry Angel" wie Reime eines Lieds, dessen Refrain die Liebe von Arthur und Jacques ist. Seine früheren Filme wie "Chanson der Liebe" (2007) und "Die Liebenden" (2011) haben veritable Musical-Einlagen, in "Sorry, Angel" übernehmen Songs, die vom Weggehen und Ankommen und dem unbedingten Glauben an die Liebe erzählen, diese Funktion: "One Love" von Massive Attack etwa, oder "In A Different Place" von Ride.
"Sorry Angel"
Originaltitel: "Plaire, aimer et courir vite"
Frankreich 2018
Buch und Regie: Christophe Honoré
Darsteller: Vincent Lacoste, Pierre Deladonchamps, Denis Podalydès
Produktion: Les Films Pelléas
Verleih: Salzgeber
FSK: Ab 16 Jahren
Länge: 132 Minuten
Start: 25. Oktober 2018
Die 1990er Jahre erstehen so unnostalgisch wieder auf, obwohl sie mittlerweile genauso schwer für einen Film zu rekonstruieren sind wie das 18. Jahrhundert: "Die Städte haben sich stark verändert", erzählt Honoré, der nicht das Budget für eine große Ausstattungsorgie hatte. "Ich habe den expressionistischen Weg gewählt und die 1990er Jahre als 'Blaue Periode' dargestellt. Einerseits wegen des Lichts: Die Nächte in Paris hatten damals eine blaue Färbung, wegen der Merkur-Lampen - heute gibt es die Sodium-Lampen, die ein orangenes Licht erzeugen. Andererseits gab es die 'Blaue Periode' von Picasso, als Begriff für sein Frühwerk, und 'Sorry Angel' repräsentiert ja meine Jugend, also meine blaue Periode."
Die blaugetönten Bilder verbinden die beiden Spielorte des Films, bis sie Jacques und Arthur bei ihrem letzten Zusammentreffen in Paris gemeinsam in die selbe Farbe tauchen: eine poetische Idee, die völlig klischeefrei von geteilten schwulen Erfahrungen und der Weitergabe von Liebe erzählt.
Fernab des Bildungsromans
Wie ist es möglich, dass in Frankreich Filmstoffe über Aids produziert und in ihrer besonderen Perspektive auf die jüngere Vergangenheit wertgeschätzt werden, während sie in Deutschland bisher über Drehbuchförderung nicht hinauskommen? Honorés Erklärung ist der in seinem Land ungebrochene Glaube an das Autor*innenkino: "Dort werden Stoffe über die Namen der Filmemachenden finanziert, nicht über das Sujet. Wenn Mia Hansen-Løve jetzt eine Geschichte über Aids entwickelt hätte, würde der auch finanziert werden. Dass es um Schwule und Tod und Krankheit ginge, wäre dabei völlig zweitrangig."
Vielleicht entstehen so neuartige Variationen von klassischen Kinogeschichten wie "Sorry Angel". Vielleicht aber auch, weil eine Generation wie die von Honoré mit besonderer Offenheit und Feinfühligkeit über ihre eigene Jugend erzählen kann, deren Besonderheit nicht reibungslos in die immergleichen Bildungsromanmuster eingepasst werden kann.
Natürlich müssen junge, sexuell andersdenkende Menschen heute immer noch in die großen Städte aufbrechen, glaubt Honoré, "allein, um eine größere Auswahl an Liebhabern zu haben. Aber Paris zum Beispiel bedeutet immer noch das Versprechen eines sinnlichen Traums. Und wenn man es dort geschafft hat, kann man auch wieder mit neuen Augen auf die Provinz schauen."