Streit zwischen Netflix und Cannes "Zwei Bullies, die einander verdient haben"

Jake Gyllenhaal in Bong Joon-hos Netflix-Film "Okja"
Foto: RW/ RW/MediaPunch/IPxSo sehen Alpträume für Regisseure aus: Noch bevor ihr Film angefangen hat, setzen die Buhrufe ein - weil den Kritikern nicht passt, für welche Vertriebsplattform sich die Filmemacher entschieden haben. 2017 wurde dieser Alptraum für Noah Baumbach und Bong Joon-ho in Cannes wahr - weil sie bei Netflix unterschrieben hatten.
Seitdem streitet die Branche darüber, welchen Stellenwert Streamingdienste in der gegenwärtigen Filmlandschaft haben und welchen sie haben sollten. Cannes hat sich 2018 positioniert und Netflix-Filme von seinem Wettbewerb ausgeschlossen, da diese keinen Kinostart in Frankreich vorweisen können. War das die richtige Entscheidung?
In unserer neuen Rubrik "Filmfrage" hören wir uns unter jeweils vier wechselnden Kritiker:innen zu aktuell diskutierten Themen um. Diesmal: Sollen Netflix-Filme auf Festivals laufen?
Susanne Burg, Filmredakteurin Deutschlandfunk Kultur, Berlin.
Ihre Sendung "Vollbild" läuft samstags von 14.30 bis 16 Uhr.
Ja, Netflix-Filme sollen auf Festivals laufen. Und zwar auch im Wettbewerb. Traditionalisten mögen das nicht goutieren, aber die Produktionsbedingungen haben sich gewandelt. Filmemacher gehen dahin, wo es Geld gibt - und künstlerische Freiheit. Und beides bieten Streamingplattformen derzeit. Martin Scorsese hätte sein nächstes Projekt wahrscheinlich gerne mit seinem Stamm-Studio Paramount Pictures gedreht. Aber sein letzter Film "Silence" war ein Flop, und Paramount kann sich derzeit keine weiteren Flops leisten, also dreht Scorsese "The Irishman" eben für Netflix. Spike Lees Kinospielfilm "BlacKkKlansman" läuft im Wettbewerb von Cannes. Sein letztes Werk "Pass Over" war eine Amazon Studios-Produktion. Die Grenzen zwischen großer und kleiner Leinwand sind also längst verschwommen. Cannes' Festivalleiter Thierry Frémaux hat darauf gepocht, dass Netflix sowohl einen Kinostart von Alfonso Cuaróns "Roma" vorweist als auch die drei Jahre Frist zwischen Kinostart und Streamingplattform einhält, die die französischen Gesetzte vorgeben. Um Ästhetik und Filmkunst ging es offensichtlich nicht. Ein Wettbewerb sollte aber ein Treffen der Filmkunst sein und nicht ein Branchentreffen der Kinolobby .

Joaquin Phoenix und Ekaterina Samsonov in dem Amazon-Film "A Beautiful Day" von Lynne Ramsay
Foto: Constantin
Thomas Schultze, Chefredakteur "Blickpunkt: Film", München
Erst in der vergangenen Woche merkte John Fithian, Chef des amerikanischen Kinoverbands NATO, auf der Kinomesse CinemaCon in Las Vegas an, dass "Black Panther" wohl kaum ein weltweites Phänomen geworden wäre, wenn der Film exklusiv auf Netflix zu sehen gewesen wäre. Erst das Kino macht Filme groß. Weshalb Netflix dringend die Plattform braucht, die ein Festival wie Cannes bieten würde: Eine Weltpremiere an der Croisette ist die Rundumveredelung für Netflix Originals, die sonst einfach in der schieren Masse des schlecht kuratierten Angebots untergehen. Wer spricht heute noch von "War Machine" oder "Bright"? Das wichtigste Filmfestival der Welt hat aufgrund seines ungünstigen Termins im Mai zwar mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen, die gegenwärtig noch durch die große Bedeutung des parallel stattfindenden Filmmarktes kaschiert werden können. Netflix ist keines dieser Probleme. Und wenn es zehnmal toll gewesen wäre, wenn die neuen Filme von Alfonso Cuarón und Paul Greengrass - beides Netflix Originals - Premiere in Cannes gefeiert hätten: Filmemacher von Rang werden es sich künftig doppelt überlegen, ob sie ihre Projekte für eine Firma drehen wollen, deren Hauptattraktion viele neue Serien für Bingewatcher sind. Gloria Swanson sagt das schön prophetisch in Billy Wilders "Sunset Boulevard": "I am big; it's the pictures that got small." Format hat nur, wer in großen Bildern denkt. Cannes hat deshalb Recht. Es braucht Netflix nicht.
Andreas Busche, Filmredakteur "Tagesspiegel", Berlin
Der sogenannte "Netflix-Streit" ist für mich ein rein französisches Problem. Festival-Direktor Frémaux knickte am Ende gegenüber der einheimischen Filmindustrie ein, die weiter auf das absurde Veröffentlichungsfenster für Streaming-Releases von 36 Monaten nach dem Kinostart besteht. Das ist natürlich hinreißend anachronistisch, aber irgendwie muss man den traditionellen Beharrunsgkräften in Cannes auch Respekt zollen. Diese Position lässt sich vermutlich nicht mehr lange halten, zumindest mit Blick auf die anglo-amerikanische Filmproduktion. Schon 2017 zeichnete sich ab, dass die Dominanz von Streamingdiensten dort eher noch zunehmen wird. Und was passiert erst, wenn bald neue Produzenten wie Apple und Hulu auf den traditionellen Filmmarkt drängen? Cannes tut sich mit seiner Strategie keinen Gefallen, muss dadurch aber nicht zwangsläufig an Prestige einbüßen. In diesem Jahr geht es offensichtlich (noch) ohne Netflix: Mit Spike Lee kehrt ein alter Bekannter zurück, David Robert Mitchell gehört zu den interessantesten neuen US-Regisseuren. Dazu laufen Ramin Bahrani und "Solo: A Star Wars Story" außer Konkurrenz. Langfristig sind Cannes und Netflix aber voneinander abhängig. Das Festival braucht auch in Zukunft große Hollywood-Namen und Netflix die Cannes-Öffentlichkeit als Promo-Plattform für seine milliardenschweren Investitionen.

Dustin Hoffman und Emma Thompson in dem Netflix-Film "The Meyerowitz Stories (New and Selected)" von Noah Baumbach
Foto: Netflix
Alexander Horwath, Autor und Kurator, Wien
.Leitete in den Neunzigerjahren die Viennale und von 2002 bis 2017 das Österreichische Filmmuseum. Zuletzt Co-Herausgeber eines Bandes über die Filmemacherin Ruth Beckermann.
Ja, Netflix-Filme sollten auf Festivals laufen - solange sich Netflix nicht nur als Ermöglicher teurer "Filmkunst" feiert, sondern künftig auch die Existenz einer globalen Kino-Öffentlichkeit akzeptiert. Letztere ist keineswegs gleichbedeutend mit dem hehren Regelwerk, das die Kino- und Verleihwirtschaft zum Schutz der alten Verwertungskette so gern beschwört. Das Beharren beider Seiten auf einer bestimmten Art von Exklusivität ist nämlich angesichts der Vielfalt existierender Bedürfnisse unter Filminteressierten schlichtweg lächerlich.
Wenn Netflix die glamouröse Festival-Premiere eines Films nur als kostengünstiges PR-Screening vor der Weltpresse betrachtet und dies die einzige Kinovorstellung im Leben des betreffenden Films bleibt, dann gibt es für die Kino-Öffentlichkeit und ihre Festivals keinen Grund, auf dieser Einbahnstraße mitzufahren oder gar den roten Teppich drüber zu rollen. Wer sich als Besucher oder Veranstalter von Kinovorführungen einer solchen Öffentlichkeit zugehörig fühlt, darf erwarten, dass relevante Filme auch für Kinoeinsätze zur Verfügung stehen - und sei es in Form von Einzelvorstellungen, in Filmreihen, auf lokalen Filmfestivals. Als Teil der Filmkultur eben. Wenn andererseits der alte Adel der Kinoketten und -verleiher als "Bollwerk" gegen das flüssig gewordene Bewegtbild nur den Zwang zum regulären Kinostart mit jahrelanger Online-Sperrfrist aufzubieten hat, dann spielt diese Rigidität gerade jenen in die Hände, die "Online" nicht als Ergänzung zum Erfahrungsraum Kino sehen wollen, sondern als dessen möglichst rasche und restlose Ersetzung.
Man könnte sagen: Die zwei Bullies in dieser Arena haben einander redlich verdient.