
Oscar-Kandidat "The Artist": "Nein, ich spreche nicht!"
Stummfilm-Hit "The Artist" Hollywood ist sprachlos
"Wir brauchten keine Dialoge. Wir hatten Gesichter!", sagt die gealterte und verbitterte Diva Nora Desmond in Billy Wilders "Sunset Boulevard", dem großen, bitteren Abgesang auf das Hollywood der Stummfilmstars. "Sprich!", verlangen in "The Artist" zwei russische Spione vom Stummfilmstar George Valentin. Doch der weigert sich, obwohl sie ihn zur Bekräftigung ihrer Forderung mit immer stärkeren Stromstößen traktieren.
"Nein, ich spreche nicht!", sagt George Valentin und behält damit recht - denn zu hören ist sein Satz nicht. Was er sagt, bekommt das Kinopublikum nur zu lesen: in einem Zwischentitel, der das Malheur George Valentins als Szene eines Stummfilms ausweist. Und dies bleibt auch so, als er hinter der Leinwand die - lautlosen - Reaktionen des Kinopublikums kommentiert.
George Valentins Sprachverweigerung ist programmatisch für "The Artist". Mehr als 60 Jahre sind vergangen seit Norma Desmonds bitteren Worten, mehr als 80, seit ein Stummfilm einen Oscar gewann. Acht Jahrzehnte lang hat die amerikanische Filmmetropole an technischen Möglichkeiten alles erprobt, was im Kino überhaupt vorstellbar war. Da gab es Technicolor, Cinemascope, Dolby Surround und - als vermeintlich letzter Hit - die dreidimensionale Digitalprojektion, um von technologischen Totgeburten wie "Sensorama" (wackelndem Gestühl) hier mal ganz zu schweigen.
Doch auf einmal wird das Unvorstellbare wahr: dass ein Stummfilm, in Schwarzweiß und dem alten Normalformat, noch einmal den Oscar gewinnen könnte. Ein Film, der keine Dialoge hat. Ein Film der Gesten und Gesichter.
Das Werk eines VJs, der filmhistorische Zitate mixt
Mehr als zehn Jahre Arbeit hat der französische Regisseur Michel Hazanavicius in seinen Film investiert. "The Artist" ist das Ergebnis intensiver Studien. Hazanavicius hat alte Filme gesichtet und massenhaft Erinnerungsbücher gewälzt. Sein Film strotzt nur so von Anspielungen auf die Filmgeschichte. Vermutlich könnte er zu jeder Einstellung eine Referenz angeben - Bilder aus Filmen von Friedrich Wilhelm Murnau, Orson Welles oder Josef von Sternberg.
Insofern ist "The Artist" ein hochartifizieller Mix, das Werk eines virtuosen VJs, der Motive der Filmhistorie mutig montiert. Was die Popmusik schon lange nutzt - das Zitat als Material - gerät hier auf die Leinwand. Vor allem aber ist "The Artist" einfach ein Riesenspaß! Und gleichzeitig so viel mehr, denn er geht wirklich zu Herzen.
So listig wie er mit der beschriebenen Anfangssequenz seine Zuschauer in die Welt des Stummfilms lockt, so klug hält er sie darin gefangen. Plausibel wird die Sprachlosigkeit durch einen Plot, der vom Ende der Stummfilmära erzählt und vom Absturz eines alternden Stummfilmstars, während gleichzeitig am Himmel Hollywoods der Stern eines jungen Tonfilm-Starlets aufgeht. "The Artist" ist hochgradig selbstreferenziell - und zugleich unverschämt publikumsfreundlich. Der ganze cineastische Zauber ist einer einfachen Grundidee untergeordnet: "Boy meets girl" lautet sie.
1927 ist George Valentin (Jean Dujardin) der Top-Star unter den Hollywood-Stars und ein Womanizer mit sprühendem Charme. Auch hat er ein Herz für den weiblichen Nachwuchs. Nur allzu gern verschafft er darum der ebenso attraktiven wie unbeschwerten Statistin Peppy Miller (Bérénice Bejo) eine Nebenrolle in seinem neuen Film.
Doch mit dem "Jazz Singer", einem ansonsten eher mediokren Musical, zieht noch im selben Jahr die Tontechnik in die Studios ein. Was der selbstverliebte Mime nicht wirklich wahrhaben will, weshalb George Valentin auf der Leinwand weiterhin schweigt.
Kongenial imitierte Gesten legendärer Hollywood-Größen
Um dem Ton Paroli zu bieten, steckt er all sein Geld in eine Großproduktion: "Tears of Love" heißt das weltumspannende Filmabenteuer, das in dampfenden Dschungeln und windigen Wüsten von heißer Liebe erzählt, dabei die ganze Opulenz des Stummfilmkinos aufbietet - und gegen die grazile Leichtigkeit der tanzenden, singenden Peppy Miller doch völlig chancenlos ist. Die "Tränen der Liebe" treiben George Valentin in den Ruin. Während das Starlet zum gefeierten Tonfilmstar wird, vergräbt sich der verbitterte Mann in einem Mausoleum, das er mit alten Filmrollen ausstaffiert.
Nach zwei Filmparodien um einen tumben Geheimagenten ("OSS 117") hat Hazanavicius mit "The Artist" einen Film zustande gebracht, der in jedem Moment den Geist des alten Hollywood atmet. Dafür gibt es gute Gründe: Sie reichen von Jean Dujardins kongenial imitierten Gesten legendärer Hollywood-Größen wie Douglas Fairbanks und Gene Kelly über die Rekonstruktion der damals üblichen Lichtgebung in den Ateliers bis zum Flair der Originalschauplätze - unter anderem konnte Hazanavicius in der Villa von Mary Pickford drehen.
Dennoch ist "The Artist" Teil des "New Hollywood" geworden: In den USA wird der Film von Harvey Weinstein verliehen, der für seine Lobbyarbeit bei der Oscar-Vergabe berühmt ist. So wird dem Film in Hollywood wohl jene große Liebe entgegengebracht, die auch sein Protagonist dort findet. Weil der Film alle Legenden, die Hollywood über sich selbst erzählt hat, noch einmal erzählt, aber durch seinen Verzicht auf die Sprache das Gefühl der Authentizität, des unmittelbaren Dabeiseins sehr viel stärker vermittelt, als Filme wie "Singin' in the Rain" oder "Sunset Boulevard" es taten.
Huldigungen dulden keine Dialoge. Indem "The Artist" das Kino sprachlos verklärt, wirkt seine Glorifizierung so aufrichtig.
Anmerkung der Redaktion: Aufgrund eines technischen Fehlers musste der Diskussions-Thread unter diesem Artikel entfernt werden. Wir bitten um Entschuldigung.