
Sundance-Festival: Die Stunde der Dokus
Sundance-Festival Im Schnee mit Robert Redford
Salt Lake City - Zu Beginn des Sundance-Filmfestivals hingen in diesem Jahr traurige Regenwolken über Park City. Doch auch nachdem ein massiver Schneesturm die Pisten über dem Städtchen in den Rockys in verlockendes Weiß gekleidet hatte, war an Skilaufen oder Snowboarden kaum zu denken. Zu vieles gab es in den zehn Festivaltagen zu entdecken.
Gesprächsthema Nummer eins unter den Produzenten, Filmemachern, Besuchern und Journalisten war Benh Zeitlins hypnotische Ballade "Beasts of the Southern Wild", der den Grand Jury-Preis des Festivals erhielt. Zeitlin erzählt aus der Sicht der sechsjährigen Hushpuppy in den Sümpfen von Louisiana die drohende Apokalypse ihrer Welt: der nahende Tod ihres Vaters wird von einer vernichtenden Flut - Wirbelsturm Katrina - und der Entfesselung vorzeitlicher Monster eingerahmt. "Das ganze Universum", sagt Hushpuppy, als die Dinge aus den Fugen geraten, "hängt davon ab, dass seine Teile genau richtig zusammenpassen". Und das tun sie hier: Traumverschwommene Bilder, kraftvolle Laiendarsteller, berückende Musik und eine mythische Geschichte vereinen sich mühelos zu einem großen Filmgedicht über den Zusammenhang der Dinge.
Auch bei den Dokumentationen, die mit 28 von insgesamt 58 Wettbewerbsbeiträgen erneut die cinematografische Vorliebe des Festivalgründers Robert Redford bekräftigten, bildeten sich lange Schlangen in den zum Schutz vor Schneetreiben und Kälte aufgebauten Warte-Zelten vor den Theatern. "The Impostor" zeichnete zur Begeisterung des Publikums die seltsamen Gemeinsamkeiten eines Betrügers auf der Suche nach einer Familie und einer Familie auf der Suche nach ihrem verlorenen Sohn nach. Der Kino-Debütant Bart Layton erzählt in diesem Film, der auf halber Strecke noch eine weitere überraschende Wendung nimmt, eine schier unglaubliche Geschichte mit Mitteln, die die filmische Grammatik der Dokumentation erweitern. Auch Malik Bendjellouls mit einem Publikumspreis ausgezeichneter "Searching for Sugar Man" um einen amerikanischen Folkmusiker, der unverhofft zum Superstar in Südafrika wird, riss das Publikum zu stehenden Ovationen hin.
"The Surrogate"? Muss man unbedingt gesehen haben!
Wie immer gab es in Sundance mehr Filme zu entdecken, als man in zehn Tagen sehen konnte, darunter auch einer, dessen Prämisse nicht eben einladend klingt: Mann in eiserner Lunge möchte Sex haben. Doch in den Warteschlangen vor den Theatern und auf den Partys entlang der Main Street verbreitete sich das Wort von "The Surrogate" wie ein Lauffeuer: Muss man unbedingt gesehen haben! Tatsächlich machen John Hawkes als Gefangener einer künstlichen Beatmungsmaschine und Helen Hunt als Sextherapeutin diesen Film nach wahren Begebenheiten zu einem hinreißend schönen Dokument der Intimität.
Spike Lees mit Spannung erwarteter "Red Hook Summer" über die Sommerferien eines Dreizehnjährigen bei seinem Großvater, einem Prediger in Brooklyn, spaltete Publikum und Kritiker gleichermaßen. Viele verließen vorzeitig den zweieinhalbstündigen Film, der über lange Strecken die glühenden Predigten des Großvaters ausstellt und dessen dramatische Überzeichnung der Figuren auf manche wie schauspielerische Inkompetenz wirkte. Andere priesen das Stück, in dem Lee erneut als Pizzalieferant Mookie auftaucht und das unter anderem die Gentrifizierung von Brooklyner Kiezen und die Bigotterie der Fundamentalchristen ins Visier nimmt, als weitere meisterliche Sozialkritik des Regisseurs. Eine erregte Tirade Lees im Anschluss an die Premiere des Films auf die "Studios, die nichts vom schwarzen Amerika wissen", setzte der Kontroverse, vielleicht ein wenig zu kalkuliert, die Krone auf.
Auf den Pisten, auf den Partys und in den Restaurants und den Kinosälen des kleinen Städtchens in den Rockys konnte man außer Robert Redford in diesem Jahr Michael Cera, Sigourney Weaver, Liv Tyler, Bradley Cooper, Ben Stiller oder Peter Jackson über den Weg laufen. Aber den meisten Besuchern des Festivals, auf dem bereits Regisseure wie Quentin Tarantino, Steven Soderbergh und Darren Aronofsky entdeckt wurden, waren die Filme wichtiger als die VIPs aus Los Angeles und New York. Tracey Morgans Schwächeanfall, eine von der Polizei gesprengte, überfüllte Privatparty der Top-Talentagentur WME, das Gegifte von Spike Lee oder eine nächtliche Gitarreneinlage von Joseph-Gordon Levitt waren Themen der Klatschseiten, aber die Festivalgäste diskutierten lieber darüber, ob "Bachelorette" komisch oder idiotisch sei, ob Peter Jacksons Doku "West of Memphis" die wahren Schuldigen eines 19 Jahre zurückliegenden Dreifachmordes ausmachte und ob "½ Revolution" über den Aufstand am Kairoer Tahrir-Platz zu sehr Realityshow sei.
Die Mission: Jungen Filmemachern ans Licht verhelfen
Zu den Publikumsfavoriten zählte Josh Radnors "Liberal Arts", bei dessen Premiere sich die Zuschauer vor Lachen bogen. Szenenapplaus und Standing Ovations begleiteten den amüsant gescripteten und verhalten sentimentalen Film um einen Mittdreißiger, der sich beim Besuch seiner Alma Mater in eine halb so alte Studentin und die goldenen Zeit des intellektuellen Erwachens verknallt. Elisabeth Olsen, jüngere Schwester der Olsen-Zwillinge, ist mit ihrer glasklaren Natürlichkeit eine der schauspielerischen Entdeckungen des Festivals, auch wenn sie hier bereits im vergangenen Jahr mit "Martha Marcy May Marlene" auf sich aufmerksam machte. Ebenfalls eine Sundance-Offenbarung war ihr "Martha"-Filmpartner John Hawkes, dessen Wiederkehr in "The Surrogate" - als gelähmter Suchender, der sich allein mit leicht gestauchter Stimme und einer verhaltenen, fast immer in der horizontal gefilmten Mimik Ausdruck verschafft - zu den großen Auftritten auf der Sundance-Leinwand zählt. "The Surrogate" gewann dann auch einen Doku-Publikumspreis des diesjährigen Festivals. Merken muss man sich außerdem Joel Edgerton, der in "Wish you were here" eine eindringliche Vorstellung als ein von den Nachwehen eines tragisch verlaufenen Urlaubs bedrängter Familienvater gibt, und die ganz junge Quvenzhané Wallis, deren unbezähmbare Präsenz "Beasts of the Southern Wild" trägt.
Die Mission des Festivals, unabhängigen, jungen Filmemachern ans Licht zu verhelfen, verkörperte sich in diesem Jahr in der wunderbaren, gänzlich über die Crowdsourcing-Plattform Kickstarter finanzierte Dokumentation "Indie-Game: The Movie". Die Doku über vier Videospiel-Designer beeindruckte den Produzenten Scott Rudin ("The Social Network", "No Country for Old Men") und den Bezahlsender HBO so sehr, dass sie sich die Rechte an dem Stück sicherten und nun eine Serie zum Thema planen. Der Film gewann einen Schnitt-Preis.
Warnung vor Trittbrettfahrern - aber welchen?
Festivalgründer Robert Redford, der in Skiweste und Jeans gewohnt jugendlich erschien, hatte gleich zu Beginn "Trittbrettfahrer" beklagt, die versuchten, das Independent-Festival für ihre eigenen Zwecke zu kapern, doch an welche Adresse sich diese Klage genau richtete, blieb offen. Vielen Festivalbesuchern drängte sich der Gedanke an die großen Hollywood-Studios auf, die mit Superstar-besetzen, mittelmäßigen Megaproduktionen den Festivals von Cannes bis Comic-Con die Energie absaugen. Auch in Park City gaben sich in diesem Jahr einige Superstars die Ehre, doch ihre Filme brillierten nur verhalten. In Julie Delpys überkandidelter Familienkomödie "2 Days in New York" verdrängen lärmende Hektik und schale Klischees (lebenslustig-lüsterne Franzosen in Amerika) zu oft den Charme der Geschichte, "Arbitrage" mit Richard Gere als Finanzjongleur in Bedrängnis, kommt arg glatt daher, auch das mit Jeremy Irons, Dennis Quaid und Bradley Cooper hochkarätig besetzte Plagiatsdrama "The Words" ist trotz seiner faszinierenden Konstruktion allzu gefällig inszeniert. Große Enttäuschung gar schlug Stephen Frears' frivoler Komödie "Lay the Favorite" mit Bruce Willis als Wettbüro-Betreiber entgegen.
Traurigste Nachricht des Festivals war der Tod des Independent-Film-Förderers Bingham Ray, der unter anderem "Bowling for Columbine" und "Hotel Ruanda" in die Kinos brachte und zu Festivalbeginn einem Schlaganfall erlag. Er konnte die Entdeckung einer Handvoll talentierter junger Filmemacher in Sundance in diesem Jahr nicht mehr mitfeiern.