Kampfkunst-Meisterwerk "The Assassin" Hör ihr beim Töten zu
Lautlos und mit tödlicher Präzision gleitet die Kamera zwischen den Bäumen eines kleinen Wäldchens, an dessen Rand ein Trupp Soldaten sein Lager aufgeschlagen hat. Sie folgt den Bewegungen einer jungen Frau in Schwarz. Ansatzlos erhöht diese das Tempo, setzt zum Sprung an und bevor man realisiert, was soeben geschehen ist, hat bereits ein scharfes Zischen die Stille durchschnitten. Der Dolch hat sein Ziel nicht verfehlt, der Mann stirbt so schnell, dass er nicht einmal mehr reagieren kann. Nirgendwo wird so elegant gestorben wie in chinesischen Martial-Arts-Filmen.
Der Wuxia, das Genre der Schwertkämpfer, historischer Ständefehden und politischer Intrigen, gilt als Königsdisziplin des chinesischen Kinos. Kein Regisseur von Rang, der sich nicht einmal an der folkloristischen Form versucht hat: Chen Kaige ("Wu Ji - Die Reiter der Winde"), Zhang Yimou ("Hero"), Wong Kar-wai ("Ashes of Time") und natürlich Ang Lee, dessen "Tiger & Dragon" den Wuxia im internationalen Autorenkino etablierte.

Insofern war Hou Hsiao-Hsien, Mitbegründer der taiwanischen Nouvelle Vague, längst überfällig, obwohl seine bevorzugten Stilmittel (eine Stillleben-artige Mise-en-scène, lange Takes) sich eher antithetisch zu den volksnahen Wuxia-Erzählungen verhalten. Sein radikaler Minimalismus bietet kaum Raum für Pathos und Action. Diese maßgeblichen Eigenschaften des chinesischen Martial-Arts-Kinos sind denn auch die beiden Zutaten des Genres, die Hou in seinem gefeierten Film "The Assassin" (2015 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet und von der britischen Filmzeitschrift "Sight & Sound" zum besten Film des Jahres gewählt) am wenigsten interessieren.
Ein Magier als Strippenzieher
Im 9. Jahrhundert droht das Reich der Tang-Dynastie von seinen Rändern her zu zerbrechen. Die äußeren Stützpunkte proben den Aufstand, besonders die Provinz Weibo im Norden Chinas unter der Führung Tian Jians (Chen Chang) fordert die Macht der Zentralregierung heraus. Diese schickt als Antwort die 23-jährige Nie Yin-Niang (Shu Qi), die von einer taoistischen Nonne in die Martial Arts eingeführt wurde, in ihre alte Heimat, um den Widersacher auszuschalten. Der Auftrag hat eine pikante Note: Tian Jian war der zehnjährigen Nie Yin-Niang einst als Ehemann versprochen worden, ein politisches Geschäft verhinderte die Eheschließung jedoch, und das Mädchen wurde zu ihrer eigenen Sicherheit ins Exil geschickt. Nun kehrt sie zurück und wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
Nie Yin-Niangs Familie ist ebenfalls in die politische Intrige verwickelt (ihr Vater, ein General, untersteht dem Oberbefehlshaber Tian Jian), die für Außenstehende kaum einzusehen sind. Im deutschen Presseheft findet sich immerhin eine Grafik zu den Verwandtschaftsverhältnissen der Figuren. Im Film helfen die kurzen Ortsangaben aber nur unwesentlich zur Orientierung in der hochkomplexen Dramaturgie, die bewusst mit Sprüngen und erzählerischen Ellipsen arbeitet. So wird etwa die mysteriöse Figur des Magiers, der relativ unvermittelt als Strippenzieher eingeführt wird, im Verlauf der Handlung nicht weiter erklärt.
Hou ist also weniger an der historischen Wuxia-Erzählung interessiert (sein Film basiert lose auf einer Kurzgeschichte aus der Tang-Epoche) als an den erzählerischen Konventionen des Genres selbst. "The Assassin" vermisst mit einer bewundernswerten Geduld die Herrschaftsräume, in denen sich private und politische Sphären überschneiden. Meist filmt die Kamera von Mark Lee Ping Bin dabei durch Schleier von Textilien und Vorhängen, die den Räumen eine fast greifbare Plastizität verleihen.
Die Machtbereiche der Frauen
Auch die Frauen (Nie Yin-Niang, ihre Lehrmeisterin, Tian Jians Ehefrau, die ein Doppelleben als maskierte Kämpferin führt) haben sich in diesen Sphären ihre Machtbereiche gesichert, ohne dass die feministische Emanzipationsgeschichte in "The Assassin" - anders als in "Tiger & Dragon" - allzu explizit wird. Genauso verweigert sich Hou mit seiner rigorosen Inszenierung den zunehmend reaktionären Tendenzen im Wuxia, der als historisches Genre mittlerweile die Rolle des chinesischen Nationalkinos erfüllen muss (siehe Zhang Yimous "Hero").
Doch selbst wenn "The Assassin" mit Andeutungen und Auslassungen spielt, bleiben Hous Bilder immer konkret. Fast erinnert der Film an eine Materialstudie des Genres, die virtuos mit Farben, Geräuschen, Bewegungen und historischen Formen experimentiert. Das schmale, heutzutage nur noch aus ästhetischen Gründen verwendete Academy-Format von 1:1.37 unterspielt die klassische Cinemascope-Epik des Wuxia mit einem architektonischen Gespür für die Ökonomie von Räumen. Die in dunklen Farbtönen, Rot und Gold gehaltenen Interieurs etabliert Hou mit wenigen Schnitten, dagegen entfalten die üppigen Landschaftsaufnahmen (gedreht wurde unter anderem in der Mongolei) auch ohne räumliche Peripherie eine majestätische Weite. Auf Naheinstellungen verzichtet Hsiao-Hsien gänzlich, ein formales Korrektiv zum melodramatischen Temperament des Genres.
Dass "The Assassin" trotz seiner formalen Strenge kein rein intellektuelles Vergnügen bleibt, liegt nicht zuletzt an der Sinnlichkeit von Hsiao-Hsiens Inszenierung, die bis in die kleinsten Bewegungen (etwa in den realistischen Kampfszenen) von der sagenhafte Kontrolle des Regisseurs über sein Material zeugt. Hier erweist sich die geräuschempfindliche Tonspur als prägnantestes Stilmittel - von den meditativen Trommeln in der Nacht bis zu den klinischen Kampfgeräuschen. Bei Hou meint man sogar das Zischen der Klingen für den Bruchteil einer Sekunde früher zu hören, als man die Bewegung wahrnimmt. Mit "The Assassin" scheint der große Formalist des chinesischen Kinos selbst den Gesetzen der Physik zu trotzen.
Im Video: Der Trailer zum Film "The Assassin"
CHN, TWN, FRA 2015
Originaltitel: Nie Yinniang
Regie: Hou Hsiao-Hsien
Drehbuch: Tianwen Zhu
Darsteller: Shu Qi, Chang Chen, Yun Zhou
Verleih: Delphi Filmverleih
Länge: 105 Minuten
FSK: ab 12 freigegeben
Start: 30. Juni 2016