Transgender-Drama "Eine fantastische Frau" Was zum Gucken

Transgender-Drama "Eine fantastische Frau": Was zum Gucken
Foto: Piffl MedienMarina Vidal (Daniela Vega) trägt eine Kette, die ihr Schlüsselbein nachzeichnet. In der Mitte bricht sich das Material und formt einen zarten Halbkreis. Die Kette schimmert kupfrig und wirkt fein, obwohl sie durch starke äußere Kräfte in ihre Form gezwungen wurde. In ihrer Unauffälligkeit ist sie ein auffälliges Stück.
"Eine fantastische Frau", der dritte Langfilm des in Argentinien geborenen Chilenen Sebastián Lelio, entwickelt sich entlang dieser Kette, am Anfang des Films steht ein Wasserfall und am Ende ein Feuer. Gewaltige Kräfte, denen auch Marina ausgesetzt ist; Binaritäten, sich instinktiv ausschließende Gegensätze: Feuer und Wasser, Mann und Frau, Leben und Tod. Marina ist eine Transgender-Frau und in dem Santiago de Chile, welches Sebastián Lelio für sie vorbereitet hat, ist ihr Auftritt eine Provokation.
Mit Frauen, die provozieren, hat der gebürtige Argentinier Lelio, der mittlerweile in Chile lebt, Erfahrung. Da wäre Gloria (Paulina García) aus dem gleichnamigen Film von 2013, die sich souverän durch Santiagos Singlewelt Ü55 tanzte. Oder Patrizia Lopez als Sofia in Lelios Debütfilm "La Sagrada Familia" (2005); eine sinnliche Hedonistin, die Drogen verteilte, aus "Hamlet" rezitierte und sich nicht nur intellektuell auf den Vater ihres Liebhabers einließ.
Suchte Sofia das Extrem, findet sich Marina von Anfang an ohne eigenes Zutun in unguten Situationen wieder. Dabei beginnt alles recht harmlos. Und auch gar nicht mit Marina, sondern mit Orlando (Francisco Reyes), dem Geschäftsführer einer Textilfirma. Ein älterer, doch kein ältlicher Mann, der Marina in der Bar abholt, in der sie singt.

Es ist die erste Begegnung mit Marina Vidal. Und wüsste man nicht um den Plot, wüsste nicht, dass "Eine fantastische Frau" den großen Auftritt von Transfrau Daniela Vega bedeutet, für den sie auf der diesjährigen Berlinale gefeiert wurde - dann wäre dies ein gewöhnliches Aufeinandertreffen einer jüngeren Frau mit einem etwas älteren Mann, klassisch, fast bieder.
Auch das anschließende Dinner deutet auf nichts hin. Es ist Marinas Geburtstag, und Orlando spendiert eine Torte und eine Reise zu den Iguazú-Fällen. Die beiden gehen in einen Club und landen schließlich ziemlich betrunken in der gemeinsamen Wohnung. Sie schlafen miteinander. Und vielleicht passiert hier die erste Exploitation, die sich Sebastián Lelio erlaubt: Er zeigt, wie Orlando Marina dreht, um sie von hinten zu nehmen.
Leiden unter der Unklarheit
Die Szene ist von zurückhaltender Erotik und dennoch wirft sie eine Frage auf, für die Lelio im Verlauf des Films eine mittelschwere Obsession zu entwickeln scheint: Wie weit ist Marinas Frauwerdung eigentlich fortgeschritten?
Es ist eine platte Frage, eine naheliegende, eine, die sich in "Eine fantastische Frau" eine Menge Leute stellen werden. Vielleicht ist es auch die Frage, mit der sich die vertrauten Binaritäten wieder herstellen lassen, unter deren Unklarheit alle in diesem Film so sehr leiden und folglich auch Marina. Das ist ein anderer Vorwurf, den man Sebastián Lelio machen könnte: dass er Marina lediglich als Lackmustest gebraucht, um verschiedene Reaktionen hervorzurufen - innerhalb des Films und auch außerhalb, im Kinosaal. Denn recht bald schubst er Marina aus der geburtstäglichen Orlando-Komfortzone.
"Man fragt sich stets: Was sehe ich gerade?", erklärt Lelio beim Interview über Skype. Er befindet sich in L.A., viel Zeit hat er nicht: Dieser Tage feiert sein neuer Film "Disobedience" mit Rachel McAdams und Rachel Weisz in Toronto Premiere - eine Liebesgeschichte zweier Frauen im orthodox-jüdischen Milieu. Mit seinen vorherigen Filmen, allesamt Festivalhits, hat er sich für die ganz großen Themen und Stars empfohlen.
"Eine fantastische Frau"
Originaltitel: "Una mujer fantástica"
Chile, Deutschland, Spanien, USA 2017
Regie: Sebastián Lelio
Drehbuch: Sebastián Lelio, Gonzalo Maza
Darsteller: Daniela Vega, Francisco Reyes, Luis Gnecco
Produktion: Participant Media, Fabula, Komplizen Film, Muchas Gracias, Setembro Cine
Verleih: Piffl Medien
FSK: ab 12 Jahren
Länge: 104 Minuten
Start: 7. September 2017
Noch wird aber über "Eine fantastische Frau", der soeben in Telluride US-Premiere hatte, geredet - vor allem über Daniela Vega und ihren irisierenden Appeal, dem Lelio allen Raum in seinem Film gibt. "Auf diese Weise entsteht eine außergewöhnliche Präsenz", sagt er. "Aber es ist auch eine Herausforderung, weil sie verunsichert. Andererseits: Warum können wir nicht einfach akzeptieren, was wir sehen und uns entspannen?"
Vielleicht, weil es auch so gut wie niemandem in diesem Film gelingt, das Entspannen. Orlando stirbt in der Geburtstagsnacht. Und Marinas Rolle in seinem Leben ist für Polizeibeamte, Mediziner und die Angehörigen Orlandos nicht eindeutig. Man macht sie zur "Perversion", zur Verbrecherin, zum Opfer. Marina findet sich in einer Welt wieder, die gespalten ist; in der es entweder Zuspruch oder Ablehnung gibt. Freunde unterbrechen unangenehme Gespräche mit Beamten oder empfehlen starken Kaffee; Feinde beschimpfen sie und kommen ihr auch physisch gefährlich nah.
Grenzen der Liebe
Für Sebastián Lelio ist Marina Vidal sowohl ein eigenständiger Charakter als auch ein Symbol. "Ich denke, dass wir ins sehr polarisierten Zeiten leben, weil wir als menschliche Gesellschaft wirklich an die Grenzen dessen stoßen, was wir weiterhin erlauben wollen und was nicht. Alle derzeitigen Konflikte siedeln sich in diesem Feld an: die Grenze der Empathie, die Grenze der Liebe, die Grenze der Loyalität. Möchte ich weiterhin loyal zu solch Dingen sein wie meiner Nation, meinem Geschlecht?"
Lelio zufolge stecken viele Menschen noch in den alten Narrativen fest. Er begreift den derzeitigen Moment der Menschheitsgeschichte als "evolutionäre Weggabelung" mit Risiko: "Weil es zerstörerisch wird, wenn wir nicht lernen zusammenzuleben."
Es ist eine große Bürde, die Marina mit solchen Überlegungen im Hintergrund zu tragen hat. Gewissermaßen wird sie zur Märtyrerin einer Idee. Verkompliziert wird der Eindruck durch den Glamour, mit dem Sebastián Lelio "Eine fantastische Frau" inszeniert. Der Film schwankt zwischen Sozialdrama, Musical, Überschwang und Kalkül.
Das sieht sehr gut aus und ist tatsächlich auch etwas, das Lelio erreichen wollte: "Das Thema wird üblicherweise unter dem harten, grauen Licht des sozialen Realismus verhandelt. Ich wollte es aber mit kinematografischer Liebe filmen. Daher hat der Film seine Pracht, das Flamboyante."
Der Polizeiarzt guckt
Das alles macht "Eine fantastische Frau" zu einem verwirrenden Erlebnis. Weil man einerseits dem Ikonenhaften dieser Figur erliegt, sie schätzt und möchte, dass ihr Frieden wiederhergestellt wird.
Andererseits wird man in die Position einer Voyeurin gedrückt und das auch nicht immer mit einer Begründung, die sich aus dem Geschehen ableiten ließe. Einmal wird Marina von der Polizei dazu gezwungen, aus vermeintlich kriminaltechnischen Gründen Fotos von ihrem entblößten Körper machen zu lassen. Die Filmkamera nimmt dabei nicht ihre Perspektive ein, sondern guckt wie der Polizeiarzt interessiert auf ihren Leib. Letztlich bleibt so ein Unbehagen zurück. Darüber, dass es Lelio nur ums Zeigen, nicht ums Erforschen ging, und wir dabei nur zusehen können.
Im Video: Der Trailer zu "Eine fantastische Frau"