
"Vice": Der Mann, der mächtiger als der Präsident wurde
"Vice" mit Christian Bale Der Böse ist immer und überall
Irgendwann, nach seiner Zeit im Repräsentantenhaus, den Jahren als Verteidigungsminister, an der Spitze des Multinationals Halliburton und den zwei Amtszeiten als Vizepräsident, hat Dick Cheney nur noch einen mächtigen Gegner: Kopenhagener.
Immer wieder greift der übergewichtige Politiker zu den zuckrigen Teilchen, und immer öfter werden sie ihm zum Verhängnis. Fünf Herzinfarkte, davon den ersten schon mit 37 Jahren, erleidet Cheney. "Einer ist sogar nicht im Film, weil er schon so viele gehabt hat", sagt Regisseur und Autor Adam McKay. Es ist das wohl Gnädigste an seinem Film "Vice", der seiner Hauptfigur ansonsten keine Schmach und Schwäche erspart. "Vice" heißt schließlich nicht nur Vize, sondern auch Laster auf Englisch.

"Vice": Der Mann, der mächtiger als der Präsident wurde
Knapp vier Jahre nach seinem Überraschungs- und Oscar-Erfolg "The Big Short" über die Finanzkrise legt McKay damit einen Film vor, wie man ihn einerseits von ihm erwartet hätte: eine Breitseite linksliberaler Wut auf die Verhältnisse, aufbereitet für ein Massenpublikum mit den Mitteln satirischer Nachrichtensendungen und einem irrsinnigen Staraufgebot.
Andererseits ist "Vice" völlig anders. Denn wo "The Big Short" brillant die Herausforderung annahm, ein abstraktes Thema wie die strukturellen Bedingungen der Immobilien- und später Finanzkrise filmisch aufzubereiten ("Hier ist Margot Robbie in einer Badewanne, wie sie die Hypothenblase erklärt"), knöpft sich "Vice" eine einzige Person vor und verengt seine Perspektive ganz auf sie.
Rumsfelds schnoddrige Witze
Das überrascht insofern, als dass Dick Cheney so gut wie kaum ein anderer Politiker das Konzept des militärisch-industriellen Komplexes veranschaulichen könnte. Dieses Konzept umschreibt die Verflechtungen von Politik, Militär und Rüstungsindustrie sowie deren gegenseitige Vorteilsnahme. Cheney war schon jede Seite dieses Dreiecks: Befehlshaber des US-Militärs, CEO eines Konzerns, der dem Militär zuliefert, und schließlich Stellvertreter eines Präsidenten, der Kriege verantwortete, in deren Folge Cheneys Ex-Arbeitgeber Halliburton massiv profitierte.
"Vice: Der zweite Mann"
USA 2018
Buch und Regie: Adam McKay
Darsteller: Christian Bale, Amy Adams, Steve Carell, Sam Rockwell, Tyler Perry
Produktion: Annapurna Pictures, Plan B Entertainment et al.
Verleih: Universum Film
FSK: ab 12 Jahren
Länge: 132 Minuten
Start: 21. Februar 2019
Statt auf politische Strukturen fokussiert McKay jedoch auf persönliche Zusammenhänge. So ist es zunächst Highschool-Liebe Lynne (Amy Adams), die Dick dazu bringt, sich vom nutzlosen Trinker zum erfolgreichen Studenten der Politikwissenschaften zu wandeln. Als Praktikant in Washington angekommen sind es anschließend die schnoddrigen Witze von Donald Rumsfeld (Steve Carell), die den bis dato parteilosen Cheney für die Republikaner einnehmen. Und während der Zeit bei Halliburton sind es schließlich die guten Verbindungen zu seinem alten Vorgesetzen George Bush, die dessen Sohn George W. (Sam Rockwell) auf die Idee bringen, in Cheney seinen "running mate" gefunden zu haben.
Christian Bale spielt Cheney über alle vier vom Film abgedeckten Jahrzehnte hinweg und liefert dafür die körperliche Extremwandlung, die man von ihm schon fast gewohnt ist: Zwanzig eigens angefutterte Kilos sowie Prothesen und Make-up sorgen für eine verblüffende Ähnlichkeit des 44-Jährigen mit dem 20 Jahre älteren Cheney.
Kein Platz für Verschwörungstheorien
Doch es ist nicht die Mimikry, die Bales Darstellung (wie Adams und Rockwell ist er für den Oscar nominiert) so sehenswert macht. Vielmehr sind es die gegenläufigen Prozesse, die Bale in seiner Figur zu verbinden versteht, die faszinieren. Je älter und dicker Cheney wird, desto leiser und bedrohlicher wird er: Seine Macht wächst, während er hinter seinen Ämtern und Pfunden verschwindet. Bale muss also für Präsenz und Abwesenheit zugleich sorgen und schafft das mit Bravour.
Gleichzeitig bleibt die Entwicklung seiner Figur lückenhaft. Wie es soweit kommen konnte, dass Cheney zum wohl mächtigsten Vizepräsidenten in der Geschichte der USA aufstieg, kann McKay nicht abschließend erklären. Vor allem die Zeit bei Halliburton bleibt seltsam diffus. Aber vielleicht ist es auch gerade richtig, dass McKay kaum Energien auf die Strukturen verwendet, die Cheneys Karriere befördert haben. Denn wo mit Hinweis auf Strukturen erklärt wird, werden Einzelne entlastet und Verantwortlichkeiten diffundiert.
Cheney, so argumentiert "Vice" schlüssig, ist jedoch einer, der wirklich persönlich und offiziell verantwortlich war. Der sein Land in zwei verheerende Kriege geführt hat und letztlich die Schuld für Hunderttausende Tote trägt. In Zeiten von Verschwörungstheorien, die immer andere Kräfte als die offiziellen am Werke sehen, ist das schon fast ein ungewohnter Blick auf Politik. Mit "Vice" kann man ihn nun wieder üben, was diesen Film so unbedingt sehenswert macht.