Wim Wenders vor den Oscars Fliege tragen! Und Turnschuhe?

Wim Wenders vor den Oscars: Fliege tragen! Und Turnschuhe?
Foto: SPIEGEL ONLINEPina wäre bestimmt gekommen. Wenn auch widerwillig, zugegeben: "In der Öffentlichkeit und vor allem, wenn Kameras dabei waren, war Pina ultrascheu", sagt Wim Wenders. "Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie hätten hierher bringen können." Er hält inne. "Doch, ich glaube schon", korrigiert er sich. "Aber sie hätte nicht viele Interviews gegeben."
Er gibt sie jetzt, die Interviews. Der deutsche Star-Regisseur sitzt im Garten eines Nobelhotels am Sunset Boulevard, neben ihm sein Produzent Gian-Piero Ringel. Hohe Hecken verschlucken den Verkehrslärm, Vögel zwitschern. Ein fast friedlicher Moment in der Ruhe vor dem Oscar-Sturm.
Aber für den sind sie ja hier. Wenders und Ringel sind für einen Oscar nominiert, mit "Pina", ihrer Hommage an Ballett-Ikone Pina Bausch. Den ganzen Tag haben sie Interviews gegeben, Hände geschüttelt, für Fotos posiert. Wenders ist heiser und müde, Ringel steckt im Jetlag. Er ist erst seit der Nacht da, Schnee in Berlin hatte seine Reisepläne durchkreuzt, dann bekam er im Flieger auch noch Fieber.

Wim Wenders' "Pina": Das Schöne und die Schnürsenkel
Trotzdem halten sie durch. Immerhin geht es um einen Academy Award. Eine Ehre, die sie ganz unterschiedlich aufnehmen. "Ich werde auch kein besserer Regisseur, wenn das klappt", murmelt Hollywood-Veteran Wenders, 66, der das vor zwölf Jahren schon mal durchlebt hat, mit "Buena Vista Social Club".
Für den 35-jährigen Ringel dagegen ist das alles neu: "Es ist die größte Auszeichnung, die man bekommen kann." Woraufhin Wenders nur trocken hinzufügt, seine Arme steif verschränkt: "In der Filmindustrie."
Dieser Inhalt verwendet veraltete Technologien und steht daher nicht mehr zur Verfügung
Eigentlich geht's ja gar nicht um die beiden. Sondern um Pina. "Ein Film für Pina Bausch", lautet der Untertitel ihrer 3-D-Dokumentation. Für, nicht über Pina. 20 Jahre hatte Wenders gewartet, bis die Technologie so weit war wie seine Vision, dann war Bausch zu Beginn des Shoots verstorben, und es wurde ein Film für Pina. Ein langer Weg, der viele Preise brachte und schließlich die Oscar-Nominierung. Wartet in Hollywood also noch ein Preis? Pinas letzte Reise. Sie wäre bestimmt hierhin gekommen.
Wenn Wenders von der Wuppertaler Ballett-Legende spricht, die ihm, der "mit Tanz nichts am Hut" hatte, eine neue Sicht auf die Kunst öffnete, dann tut er das oft in der Gegenwart statt in der Vergangenheit. Als wolle er sich nun revanchieren, wolle sie an diesem Hollywood-Spektakel teilhaben lassen - Empfänge, Screenings und immer wieder die gleiche Frage: Was tragen Sie auf dem roten Teppich?
Ja, daran hätte auch sie ihren Spaß gehabt, trotz ihres Images als ernsthafte Künstlerin. "Pina war in ihrer Arbeit und ihrem Privatleben eine unglaublich vergnügte und fröhliche Frau", sagt Wenders. "Ich habe manchmal bei den Proben gedacht: Kriegen die jemals was fertig? Die lachen ja nur."
"Pinas großes Lächeln"
Auch als Wenders von der Nominierung erfuhr, hat er "nur Pinas großes Lächeln gesehen". Wobei man sich diese tiefgründige Frau kaum vorstellen kann in der Scheinwelt Hollywoods, durch die Wenders und Ringel diese Woche geschleust worden sind auf dem Weg zur Oscar-Show im Hollywood & Highland Center.
Diese Diskrepanz wurde zum Beispiel am Mittwoch deutlich. Da findet sich Wenders auf der Bühne des Samuel Goldwyn Theaters wieder, dem Vorzeigekino des Oscar-Gremiums Academy of Motion Picture Arts and Sciences (Ampas). Die Ampas ehrt an diesem Abend alle nominierten Dokumentarfilmer. "Pina" konkurriert mit vier klassischen Vertretern dieser Kategorie: "Hell and Back Again" (über einen US-Soldaten), "If a Tree Falls" (über radikale Umweltschützer), "Paradise Lost 3: Purgatory" (über drei unschuldige Häftlinge) und "Undefeated" (über ein Football-Team in einem Armenghetto).
In Gesellschaft solcher Sozialdramen ist Wenders' bewegender Tanzfilm eher ein "Exot", wie Ringel es formuliert. Was auch der Conferecier des Ampas-Abends findet, der Oscar-gekrönte Filmemacher und Polit-Agitator Michael Moore ("Bowling for Columbine"). Der flachst Wenders an: "Was zum Teufel machst du denn hier?"
Wenders ficht das nicht an. Er provoziert die Konkurrenten mit seinem Appell, über ihren Tellerrand hinauszudenken, auch mal eine neue "Filmsprache" zu wagen. Dokumentarfilmer, findet er, sollten sich nicht nur auf "Krieg, Todesstrafe und Desaster" beschränken. "Sie müssen nicht immer nur Entsetzen verbreiten, sondern auch ruhig mal was Schönes erkunden." So wie eben den Tanz: Auch der habe eine "soziale und politische Komponente".
"3D ist unsere Geheimwaffe"
Ob sich die Oscar-Wähler dem anschließen? "Pina" ist ja nicht nur vom Thema her anders. Es ist der erste Arthouse-Film überhaupt in 3D - eine Technik, für die Wenders hier rastlos trommelt. "3D ist unsere Geheimwaffe", belehrt er die Kollegen auf der Bühne, als die klagen, dass Dokumentarfilme auf Dauer kaum Kinos füllen könnten. Die Reaktion: Skepsis. 3D? Ist das nicht nur was für brüllende Blockbuster?
Aber Wenders war ihnen ja schon immer weit voraus. Auch das macht ihn zum Außenseiter in der Oscar-Schönheitskonkurrenz: Die konservative Ampas wagt selten das Risiko, auch wenn mit Martin Scorseses "Hugo Cabret" erneut eine 3-D-Produktion groß auftritt, nach "Avatar", der 2010 in den Top-Kategorien leer ausging. "Da sind viele Leute noch der Meinung, das ist ein Gimmick", sagt Wenders. "Wir werden sehen."
"Die Nominierung ist eine riesengroße Ehre", freut sich Ringel jedenfalls. "Sollte es klappen, wäre das unfassbar." Und ein Schub für ihr nächstes Projekt, das Familiendrama "Everything Will Be Fine", für das der Dreh im Spätsommer beginnen soll.
"Bloß keine Krawatte"
"Pina" ist nicht die einzige Oscar-Hoffnung Deutschlands. "In Darkness" der polnischen Star-Regisseurin Agnieszka Holland, als bester Auslandsfilm im Rennen, ist eine deutsche Co-Produktion. Die Berlinerin Lisy Christl ist für ihre Kostüme in Roland Emmerichs Historien-Epos "Anonymus" nominiert, der Hamburger Max Zähle für seinen Kurzfilm "Raju".
Doch Wenders ist der Mann, den hier alle kennen, nicht erst seit "Buena Vista Social Club". Im Samuel Goldwyn Theater wird er von den Reportern denn auch gleich zweisprachig bestürmt und muss seine englischen Antworten meist noch auf Deutsch wiederholen. Mit seiner grauen Strubbelmähne wirkt Wenders da eher wie ein Mentor als ein Kandidat - auch wenn er Turnschuhe mit lila Senkeln trägt, im farblichen Einklang mit Rollkragenpulli und Hornbrille.
Ein Oscar, sinniert er tags darauf im Garten, könne ja auch ein Fluch sein. "Das hast du dann immer am Stecken", sagt Wenders. "Das hast du immer an deinem Namen hängen."
Siehe Florian Henckel von Donnersmarck, der 2007 mit seinem Erstlingswerk "Das Leben der Anderen" einen Oscar abräumte und dann mit dem Hollywood-Thriller "The Tourist" bei den Kritikern durchfiel. "Dann guckt alle Welt drauf, wie man runterfällt", sagt Wenders.
Jetzt geht's aber erst mal um den Sonntag. Und, ja, um die unvermeidliche Frage, was man anzieht auf dem roten Teppich. Eine Fliege natürlich, erklärt Wenders dem Novizen Ringel. Bloß keine Krawatte. In Sachen Schuhwerk freilich ist auch er überfragt: "Ich weiß nicht, was die Regeln für Turnschuhe sind."