Zum Tod von Sidney Lumet Der Mann, den Hollywood nicht liebte

Sidney Lumet mit Ehren-Oscar: "Ich wollte einen, verdammt noch mal"
Foto: ROBERT GALBRAITH/ REUTERSEs gehört zu den Ritualen des modernen Hollywood, dass den DVD-Veröffentlichungen neuer Filme Making-of-Videos beigefügt werden, in denen die Stars eines Films den Regisseur über den grünen Klee loben. Jeder zweite ist diesen Werbe-Interviews zufolge ein "Actor's Director", einer, der die Schauspieler wirklich versteht, der führen kann aber auch genügend Freiraum lässt für Kreativität, der Allerbeste. In den meisten Fällen dürfte es sich bei diesen Hymnen um kaum mehr als routinierte Hollywood-Heuchelei handeln. Bei Sidney Lumet aber war das anders.
Schauspieler, die ihren Beruf liebten, liebten auch den Regisseur Lumet. Nicht nur, weil er die Schauspielerei selbst gelernt, jahrelange Erfahrung auf den Bühnen des Broadway gesammelt hatte. Sondern auch, weil die Charaktere und damit die präzise Darstellung jeder noch so randständigen Nebenfigur für ihn so wichtig waren, dass er seine Schauspieler proben ließ, als müssten sie ein Bühnenstück aufführen. Zu Lumets ganz spezieller Arbeitsweise gehörten zweiwöchige Proben vor dem eigentlichen Drehbeginn, in denen das Ensemble das Drehbuch chronologisch durchspielen musste.
Schauspieltruppe mit Yul Brynner
Lumet war der Sohn eines Schauspielers, trat schon als Kind mit ihm gemeinsam auf. 1935, mit 11 Jahren, hatte er sein erstes Gastspiel am Broadway. Seine Schauspielkarriere unterbrach der zweite Weltkrieg, den Lumet als Radartechniker in Südostasien verbrachte, doch gleich nach seiner Rückkehr spielte er wieder Theater, gründete eine eigene Schauspieltruppe, zu der unter anderem der junge Yul Brynner gehörte. Lumet begann, auch Regie zu führen.
Anfang der Fünfziger verlegte er sich auf Regiearbeiten für das US-Fernsehen. Als er mit "Die zwölf Geschworenen" seinen ersten Kinofilm drehte, schuf er auf Anhieb einen Klassiker, einen Meilenstein, den bis heute jeder Filmfan kennt - und blieb doch seinen Wurzeln im Theater treu. "Twelve angry Men" so der Originaltitel, 1957 in Schwarzweiß gedreht, ist ein Kammerspiel, in dem ein einzelner aufrechter Mann, gespielt von Henry Fonda, eine komplette Jury davon überzeugt, einen vermeintlich längst überführten Mörder am Ende doch nicht in den Tod zu schicken. Bis heute wird das Drehbuch von Reginald Rose rund um die Welt als Bühnenstück inszeniert.
New-York-Regisseure: Woody Allen, Martin Scorsese, Sidney Lumet
Es folgten weitere Filme, die auf dramatischen Werken basierten, von Autoren wie Tennesee Williams, Eugene O'Neill oder Arthur Miller. Als in den frühen siebziger Jahren in Kalifornien Regisseure wie Francis Ford Coppola oder Terrence Malick "New Hollywood" erfanden und das alte Studiosystem mit rauen neuen Autorenfilmen verabschiedeten, blieb Lumet in New York, seiner Stadt, und drehte dort weiter einen Film nach dem anderen. Die Stadt selbst und ihre Bewohner wurden immer mehr zum zentralen Thema seines Werks. Drehorte, schrieb er einmal "sind für mich wie Charaktere". Neben Woody Allen und Martin Scorsese war Lumet der dritte große New-York-Regisseur.
In "Serpico" ließ er einen bärtigen Al Pacino ganz alleine gegen die korrupte New Yorker Polizei antreten - und zehn Jahre später noch einmal Treat Williams in "Die Herren der Stadt" ("Prince of the City"). In "Hundstage" führte er in quälender Präzision vor, wie ein Bankraub schiefläuft, in "Network" zeichnete er bitteres Porträt einer zynischen Medienmaschinerie in einer Zeit terroristischer Anschläge - eine böse, heute bedrückend aktuell wirkende Satire.
"Ich wollte einen, verdammt noch mal"
Bis ins hohe Alter arbeitete Lumet unermüdlich weiter, drehte insgesamt über 40 Filme. Nicht alle waren Meisterwerke, und so mancher floppte an der Kinokasse. Die Schauspieler aber wollten weiter mit ihm arbeiten, die größten, besten und berühmtesten der Branche, bis zuletzt. Lumet drehte im Lauf seiner Karriere mit Sean Connery und Marlon Brando, Lauren Bacall und Katharine Hepburn, Dustin Hoffman und Paul Newman, Sharon Stone, Nick Nolte und zahllosen anderen. Vielen seiner Stars verschaffte der Actor's Director Oscars - während er selbst stets leer ausging.
Sein letzter Film "Tödliche Entscheidung - Before the Devil Knows You're Dead" (2007) versammelte noch einmal ein höchst eindrucksvolles Ensemble, das Lumet dazu trieb, darstellerisch bis an den Rand des Erträglichen zu gehen. Ethan Hawke und Philip Seymour Hoffman spielen in dem verzwickten Plot zwei ungleiche Brüder, die aus sehr unterschiedlichen Gründen dringend Geld brauchen - und mit einer vermeintlichen Abkürzung auf dem Weg dorthin eine Katastrophe auslösen, die nicht nur ihre eigene Familie zerstört. Diese Rollen zu spielen, sagten Hawke und Hoffman in einem Gruppeninterview mit Lumet übereinstimmend und voller ehrlicher Begeisterung, sei "ein Albtraum" gewesen. Lumet musste seine Schauspieler nicht quälen. In seiner Gegenwart quälten sie sich selbst.
Die - Lumets eigenen Worten zufolge - melodramatische, komplex geschnittene Noir-Geschichte wurde von der Kritik begeistert gefeiert. Der Meister hatte seine Karriere mit einem Meisterwerk beendet, auch wenn das nicht seine Absicht gewesen war. Unmittelbar nach "Tödliche Entscheidung" begann Lumet den nächsten Film zu planen, den er unbedingt in digitalem Format und High Definition drehen wollte. Doch dazu kam es nicht mehr.
Er liebte New York, Hollywood hat ihn nie so richtig geliebt. Für den Oscar war er viermal nominiert, für "Die zwölf Geschworenen", "Hundstage", "Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit", und für "Network". Bekommen hat er letztlich nur einen, für sein Lebenswerk, im Jahr 2005.
Als man ihn einmal fragte, ob er sich sehr gefreut habe, nun doch noch einen Academy Award mit nach Hause nehmen zu dürfen, antwortete Lumet 2007, vier Jahre vor seinem Tod: "Ich wollte einen, verdammt noch mal, und ich fand, dass ich auch einen verdiene."
Nun ist Sidney Lumet im Alter von 86 Jahren in seiner Wohnung in Manhattan gestorben.