RAUMFAHRT / PANNEN Klappen verklebt
Der Start verlief planmäßig. Steil hob sich am 4. September 1964 die Atlas-Agena-Rakete mit dem ersten Vielzweck-Forschungssatelliten »Ogo I« ins All.
Stunden später geriet die Raumsonde ins Taumeln und verlor den Funkkontakt zur Erde. Amerikas Raumfahrttechniker stellten fest: Zwei der sechzehn Fühler und eines der beiden Sonnenpaddel des insektenähnlichen Erkundungssatelliten ließen sich nicht wie geplant ausfahren.
Das teure Raum-Experiment (Kosten: 200 Millionen Mark) drohte an einem Phänomen zu scheitern, das den Ingenieuren schon seit längerem bekannt gewesen, bis dahin aber wenig beachtet worden war: Unter den extremen Bedingungen des Weltraums können sich Metallteile eines Satelliten so fest miteinander verbacken, als seien sie auf Erden mittels Schweißbrenner verbunden worden. Fachwort der Ingenieure: »Space Welding« ("Raum-Schweißen").
Zwei Testsatelliten der US-Luftwaffe, die im vergangenen Sommer insgeheim gestartet, aber erst kürzlich von der US-Weitraumbehörde bekanntgemacht wurden, sollen nun den Störfaktor genauer erkunden.
Den US-Raumfahrttechnikern ist theoretisch klar, worin die Ursache der seltsamen Raum-Erscheinung zu suchen ist. Innerhalb der Erdatmosphäre, so erklärten die Ingenieure, bleiben Metallkörper, auch wenn sie einander berühren, noch immer durch einen hauchdünnen Luftfilm und meist auch durch eine Oxydationsschicht (etwa Rost) voneinander getrennt.
In der Luftleere des Weltraums dagegen lösen sich die Luftmoleküle restlos von der Metall-Oberfläche. Zudem fegen Sonnenlicht und kosmische Strahlung die Oberfläche der Metalle völlig blank. So treffen die Metall-Moleküle, etwa bei einem sich schließenden Ventil, unmittelbar aufeinander. So fest können sich die Metalle vereinigen, daß sie an der Nahtstelle einer Zugkraft von fast einer Tonne pro Quadratzentimeter standzuhalten vermögen.
Am Himmel und auf Erden hatte der Kalt-Verschweißungseffekt in der Vergangenheit immer wieder zu Forschungspannen geführt. Wie anfangs das glücklose »Ogo I«-Vehikel (dem nach einer durch Funk übermittelten Reparatur-Anweisung noch Teilerfolg beschieden war) versagten auch mehrere Wettersatelliten, weil sich ihre Antennen nicht entfalteten: Die vergoldeten Stäbe waren in den Hülsen festgeschweißt. Bei Spionage-Satelliten klappte der Abruf der Kapseln mit den belichteten Filmen nicht. Und auch in den irdischen Vakuum-Testkammern fanden die Raumforscher verklebte Ventilklappen oder im Gewinde festgeschweißte Schrauben.
Irrtümlich hielten die nervös gewordenen Wissenschaftler auch eine der bislang gefährlichsten Pannen in der bemannten Raumfahrt für eine Folge des unliebsamen Weltraum-Schweißens: Als im Juni 1965 die Gemini-4-Piloten White und McDivitt nach einem Raum-Ausflug anfangs die Kapseltür nicht zu schließen vermochten, glaubten die Nasa-Experten, Lukendeckel und Kapselwand seien miteinander verschmolzen. Erst später erwies sich, daß der Türverschluß aus mechanischen Gründen versagt hatte.
Mit Hilfe der beiden Testsatelliten die seit einigen Monaten die Erde umkreisen, wollen die US-Raumfahrtingenieure nunmehr Verfahren erproben, die den unerwünschten Verklebungsprozeß verhindern. Die Metallantennen der beiden Testsatelliten wurden mit einem Überzug aus Teflon versehen -- einem Kunststoff, der auch zur Herstellung synthetischer Blutgefäße und. zur Auskleidung anbrennsicherer Bratpfannen verwendet wird.
Zu Meßzwecken bauten die Forscher in die achteckigen Testsatelliten je vier Steuerventile (wie sie auch bei bemannten Raum-Raketen üblich sind) sowie je acht »Material-Paare« ein -- Halbkugeln aus verschiedenen Metallen, die während des Fluges vieltausendmal zusammengefügt und wieder auseinandergezogen werden. Auf diese Weise soll erforscht werden, welche Metallarten die geringste Verschweißungsneigung aufweisen.
Nicht nur der Pannenverhütung, sondern auch der Entwicklung zukunftsweisender Weitraum-Bautechniken sollen die Schweißtests im All dienen: Nach dem zufällig entdeckten Weltraum-Schweißverfahren, so glauben die Forscher, könnten dereinst auf dem Mond und im freien All metallene Raum-Bauten errichtet werden -- durch einfaches Zusammenfügen der Konstruktionsteile.
Einstweilen freilich bleiben Amerikas Astronauten noch von Verschweißungs-Pannen bedroht, gegen die im Ernstfall auch die Geistesgegenwart der Raumpiloten nichts ausrichten könnte: Die Nasa-Ingenieure befürchten, daß kaltschweiß-blockierte Treibstoffventile gelegentlich zur Explosion eines Raumschiffes führen könnten.