»Orchestre de Paris« in der Elbphilharmonie Ein Gläschen Champagner?

Das »Orchestre de Paris« in der Hamburger Elbphilharmonie
Foto:Daniel Dittus / Elbphilharmonie
Auferstehung! Da ist gerade ein lieber Freund zu Grabe getragen worden, keinen Tag vorher, und nun donnert ein Chor, für den ein ganzer Rang freigehalten wird. Und das »Orchestre de Paris«, in Mann- und Frauenstärke. Unter einem 27-Jährigen, dem phänomenalen Klaus Mäkelä, dessen epochal-einzigartige Überbegabung ich erst jetzt – trotz aller seiner sieben bisher besuchten Konzerte – erkenne. Die »Auferstehungssinfonie« des Gustav Mahler.
In der Elbphilharmonie am Samstagabend: Das Wort vom »Millionenpublikum« kann heute wörtlich genommen werden, soviel hanseatisch-zurückhaltende Eleganz – eine der distinguierten Gattinnen befindet im Seitenblick hinab, groß gewachsen ist die Elite in Hamburg, nun, offenbar trage ich ihr zu viel Karat an den Fingern, Puff-Daddy-mäßig, und überhaupt müssen die Coiffeure der oberen Zehntausend am Nachmittag von Le Coupe bis Marlies Möller wie am Fließband gearbeitet haben, »bedaure, gnädige Frau, unmöglich, nein, auch wenn Sie warten – Sie wissen doch, immer, wenn das Orchestre de Paris gastiert …!«
Man hat sich fein gemacht heute Abend
Langsam und bedächtig schreiten die dann doch recht betagten Reeder und Banker und Society-Damen durch die heiligen Hallen, neben mir ein alter Gentleman mit Gehstock, der anfangs sehr distanziert ist, und dem es nach der »Symphonie Phantastique« dann doch entfährt: »27 ist er, der Bengel!« – und ich kann antworten, meine Scheu überwindend, »In der Tat, – ich habe nun heute von ihm den ganzen Sibelius gehört …«. Und ich empfange ein gnädiges, weißhaariges, huldvolles, und ich bilde mir ein, anerkennendes Kopfnicken. Irgendwie komme ich mir gerade geadelt vor.
Ja, man hat sich fein gemacht heute Abend, denn immerhin ist Paris zu Gast, die Stadt des Lichts. Und tatsächlich, hier leuchtet es, das Orchester. Man gibt das Sibelius Violinkonzert D-moll, op.47, das heißt, sie gibt es, Janine Jansen, 45. Es gibt Virtuosen, die mit einem besonderen Repertoire, manchmal nur einem Werk eine ganz besondere Beziehung aufbauen, ja, letztgültige Interpreten sind. Und so ist die Jansen nicht nur mit dem fulminant-diffizilen Konzert geradezu verwachsen, sie wächst über sich selbst hinaus, die Szene völlig beherrschend. So sehr reizt sie Ritardandi aus, mal bricht sie aus, im Dritten, ja fast im Wahnsinn dahin galoppierenden Satz »Allegro ma non tanto«. Im Blutrausch nimmt sie die über alle Saiten rasenden Läufe, dass ihr das sonst doch so eingespielte Orchester an zwei Stellen in den Holzbläsern nicht hinterherkommt. Was Mäkelä mit dem entschiedenen Ausfallschritt eines trainierten Jungspunds sofort wieder einholt, der Tausendsassa!
Bei den ersten Takten allerdings bin ich etwas irritiert, weil die Geigen für meine Ohren zunächst etwas »flach« klingen. Das scheint meine Nachbarin in ihrer roten Daunenjacke nicht zu stören, weil sie ja eh an den leisesten Stellen ihr Husten unterlegen muss, »desch is ja nix für große Leute«, hat sie schon anfangs geschwäbelt, wegen der Beinfreiheit, »desch is ja schlimmer als im Fluchzeuch.« Ich sehe sie dann aber auch in der Pause dem Ausgang zu- und hinabstreben. Und sie ward nicht mehr gesehen.
Schade eigentlich, denn jetzt könnte sie husten nach Herzenslust, bei Hector Berlioz, da wird mit Pauken und Trompeten und zwei Harfen Ramba-Zamba gemacht, dass es Lust und Freude und ein rechter Spaß, vor allem für ältere Herren wie meinen Nachbarn und mich.
Mir scheint auch, dass die Plätze sich gelichtet haben, als wären manche Connaisseurs nur der Solistin wegen gekommen – die Hongkong-Chinesin einen Platz weiter jedenfalls, ganz in Chanel, ist geblieben. Viele, und die, die es sich leisten können, reisen dem Wunderkind am Pult hinterher, und so funkelt die asiatische Labelkönigin mit einer ihrer 150.000 $ Brillantuhren weiter fasziniert vor sich hin. Millionenpublikum, ich sag’s ja.
Im Glasaufzug am Baumwall gerate ich später nach dem Konzert an vier junge, feuchtfröhliche Inder mit Ghettoblaster, aus dem Bollywood-Musik vom Feinsten schallt und mit der beherzt auch der Waggon der U3 flächig belegt wird. Vielleicht haben sie mich ja auch schon etwas vorbereitet, auf die ultramoderne Uraufführung, die für den morgigen Sonntag angekündigt ist. Gleiche Band, gleicher Boy, zwei Sängerinnen und ein großer Chor.
Also rasch zum Sonntagsbäcker, ein Croissant, dann ein Café au Lait, mittags ein Entrecôte, her mit der Lanvin-Krawatte, und heute Abend vielleicht ein Gläschen Champagner? Man muss ja im Thema bleiben.
Nun gut, der Schampus bleibt aus, denn das Sonntagskonzert ist pausenlos. Und im Gespräch mit Kollegen, man trifft sich zufällig auf der Hafenbrücke im Hinstreben zum Konzerthaus, erfährt man, dass die Deutschland-Premiere »nur« zehn Minuten währt.
Aber schöne, flüsternd-leise Minuten, denen man sich getrost hingeben kann. »Im Entschwinden« heißt das fast nur hingehauchte Werk des Mark Andre, und tatsächlich scheint die »Melodie« nur auf, zerbrechlich-zart wie ein Liebesgedicht, und man wünscht dem 58-jährigen Tondichter allen denkbaren Erfolg, und zur Einstimmung auf Gustav Mahler gereicht es allemal – sogar die Bezeichnung »Auftakt« ist da lautmalerisch schon zu viel.
Und dann fegt jener Mahler alles hinweg. Nichts Flaches ist da mehr im Orchester, die Franzosen toben sich geradezu aus, und so ist es kein Wunder, dass der Saal bald toben wird. Majestätisch klingt der Mahler, und triumphal und erhebend. Und ja, erleuchtend, und ich erwische mich dabei, das Thema des chorischen Finales auf dem Heimweg mantraartig vor mich hinzusingen, eine Weise, die ohne Zweifel bald im Alltagslärm wieder verschwinden wird – aber sie gehört zu haben, ist ein wahrlich und wahrhaftig großes, nein, das größte Geschenk der Gäste aus Paris.