Zur Ausgabe
Artikel 20 / 49

SOWJETKRIEG Kleine Größe

aus DER SPIEGEL 17/1960

Wenn der Grundgedanke Baklanows darauf hinausläuft, den durchschnittlichen ,kleinen' Menschen im Krieg zu zeigen, so müssen wir feststellen, daß dieser Grundgedanke falsch ist«, schrieb im Herbst vorigen Jahres der sowjetische Kritiker Jurij Barasasch in der »Iswestija«. »Bei uns lassen sich Einfachheit und Alltäglichkeit des gewöhnlichen Menschen nicht von dessen Größe und Macht trennen.« Anlaß zu dieser unmißverständlichen und grundsätzlichen Rüge war der erste Roman des jungen sowjetischen Schriftstellers Grigorij Baklanow »Ein Fußbreit Erde"*.

Dank der Aufmerksamkeit der Zeitschrift »Osteuropa«, die Baklanows Werk im Juni und Juli des vergangenen Jahres in der sowjetischen Literatur-Zeitschrift »Nowy mir« entdeckte (es ist bis jetzt' lediglich dort und nicht als Buch erschienen - genau wie zuvor Wladimir Dudinzews kritischer Roman »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, der 1957 zum Ärger der Moskauer Offiziellen in fast alle Weltsprachen übersetzt wurde), ist die Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart jetzt in der Lage, den ersten sowjetischen Kriegsroman in der Bundesrepublik zu veröffentlichen. Andere, freilich linientreue sowjetische Kriegsbücher - zum Beispiel Konstantin Simonows Roman »Tage und Nächte« - sind auf deutsch lediglich in der Zone erschienen.

Die Deutsche Verlags-Anstalt wollte ursprünglich Baklanows Kriegsroman

gemeinsam mit einem sowjetzonalen Verlag publik machen, schon um dem Autor so wenig Schwierigkeiten wie möglich zu bereiten - er ist ebensowenig wie der sowjetische Verlag nach den Rechten gefragt worden, weil die Stuttgarter fürchteten, diese Rechte doch nicht zu bekommen. Aber die Aussicht, daß Ulbrichts Literaturfunktionäre ausgerechnet diesen Roman übersetzen lassen, ist praktisch gleich Null, seit dem Buch von der sowjetischen Parteikritik »Remarquismus« vorgeworfen wurde, also eine betont kritische Beschreibung des Krieges, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg Erich Maria Remarque in seinem Buch »Im Westen nichts Neues« mit großem Publikumserfolg vorexerziert hatte.

So hat die Deutsche Verlags-Anstalt allein die deutsche Buchausgabe auf sich genommen - ein vom rechtlichen Standpunkt risikoloses Geschäft, da sich die Sowjet-Union bisher keiner internationalen Konvention über Autorenrechte angeschlossen hat.

Baklanows Roman spielt im Sommer

1944 in einem Brückenkopf am Dnjestr. Der Brückenkopf soll für die bevorstehende Offensive der Roten Armee auf jeden Fall gehalten werden. Held des Buches ist der 21jährige Reserveleutnant Motowilow, zuerst Leiter einer vorgeschobenen Artillerie-Beobachtungsstelle, dann Batteriechef. Motowilow, pflichtbewußter Kommunist und Offizier, aber alles andere als ein begeisterter Hurra-Soldat, betrachtet den Krieg vergleichsweise nüchtern. Er konstatiert zum Beispiel die Stumpfsinnigkeit der Vorgesetzten, die Angst der Untergebenen und die militärische Tüchtigkeit des deutschen Gegners.

Statt den Großen Vaterländischen Krieg zu heroisieren, beginnt Baklanow seinen Roman mit der Darstellung des Kriegsalltags. Gleich zu Anfang werden lange Passagen dem Feldkoch gewidmet, aus denen zu entnehmen ist, daß den Soldaten der Roten Armee das Essen genauso wichtig war wie den Kriegern anderer Nationen.

Die Art und Weise, in der Baklanow die Schrecklichkeiten der Verwundungen und Heldentode im Detail schildert, ist westlichen Lesern von Remarque, Mailer, Jones und Ledig zwar vertraut mag aber auf sowjetische Kritiker schockierend gewirkt haben. Aus dem programmatischen sozialistischen Realismus ist ein Realismus geworden: »Mit letzten Kräften versucht (der tödlich verwundete Soldat) Schumilin aufzustehen. Blut dringt aus der Kehle, fließt über sein unrasiertes Kinn, über die nackte Brust... Er verschluckt sich daran, und seine ... angstgeweiteten Augen versuchen, mich zurückzuhalten. Er hat verstanden, daß ich ihn aufgebe.«

Das Blut der Toten dörrt in der Sonne, »und schon kleben Fliegen daran«, und der Heroismus der Sowjetsoldaten wird aufs Allgemein-Menschliche reduziert: »Da muß (der Soldat) Kochanjuk sich übergeben. Er kniet in der Ecke, stützt sich mit Stirn und Händen gegen die Grabenwand ...«

Schrieb die »Iswestija": »Er (Baklanow) hat eine Vorliebe für naturalistisehe Bilder ... und schildert die menschlichen Leiden zu unverhüllt. Er unterstreicht zu sehr das fast animalische Angstgefühl, das Grauen, das den Soldaten im Kampf erfaßt und ihn jeder Selbstkontrolle beraubt.«

Für noch gefährlicher als solche realistischen Details hält die sowjetische Kritik einzelgängerisch-subjektive Auslassungen des Helden wie diese: »Jeden Monat werden Hunderte solcher wie ich aus den Militärakademien entlassen, Hunderte fallen an den Fronten ... Aber so wie ich ein X-beliebiger von diesen allen bin, bin ich gleichzeitig ich und niemand sonst.«

Den Leutnant Motowilow »kann man ... als Batterieführer ersetzen... Aber Dir (der Mutter) kann kein Sohn einer anderen Frau den eigenen ersetzen... In Deinem Herzen könnte mich ... höchstens mein Sohn ersetzen. Aber wenn ich falle, wird es meinen Sohn niemals geben«.

Dieser in den Augen linientreuer sowjetischer Kritiker nahezu anarchistische Ausbruch des Individualismus überschreitet auch heute noch in der Sowjet-Union das Erlaubte. Schrieb die »Iswestija": »Er (Baklanow) hat damit das höchste ästhetische Gesetz des sozialistischen Realismus verletzt.«

* Grigorij Baklanow: »Ein Fußbreit Erde«; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 224 Seiten; 12,80 Mark.

Zur Ausgabe
Artikel 20 / 49
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten