AUSSTELLUNGEN / MONTREAL Kohl und Kultur
Acht Monate lang kippten Lastwagen Schotter und Erde in den St-Lorenz-Strom -- Tag und Nacht, alle drei Minuten, insgesamt 20 Millionen Tonnen.
Dann hatte Kanada, zweitgrößtes Land der Welt, vierzigmal so groß wie die Bundesrepublik, 280 Hektar Neuland gewonnen: Im Flußbett vor der City von Montreal ist eine Insel künstlich angelegt, eine zweite durch Aufschüttung vergrößert worden. Kosten: 220 Millionen Mark.
Der aufwendige und vergleichsweise spärliche Landgewinn dient nationalem Renommee und internationaler Renommiersucht: Am Freitag dieser Woche wird auf den Kunstinseln im St.-Lorenz-Strom die »Expo 67« eröffnet, laut Prospekt »die größte Weltausstellung aller Zeiten«. Die Schau soll, wie Montreals Bürgermeister Jean Drapeau formulierte, der Welt zeigen, daß aus Kanada mehr kommt als Kaltwetter-Fronten und Eishockeyspieler«.
Drei Milliarden Mark -- viermal soviel wie für die Weltausstellung 1958 in Brüssel, anderthalbmal soviel wie für die Superschau in New York 1964, haben Kanada und die dort vertretenen Länder aufgewendet. Die Weltausstellung in Montreal -- Anlaß: das hundertjährige Bestehen des unabhängigen Bundesstaates Kanada -- soll dem durch Mammut-Tingeltangel bei der New Yorker »World's Fair« lädierten Ruf weltweiter Schaustellung zu neuem Glanz verhelfen.
Nur sieben Nationen (den Vatikan eingerechnet) hatten sich mit eigenen Pavillons an der New Yorker Veranstaltung beteiligt, die eher einem inneramerikanischen Reklame-Rummel glich und mithin vom Pariser »Internationalen Ausstellungsbüro« (BIE) nicht als offizielle Weltausstellung anerkannt wurde. 71 Nationen, einschließlich der Sowjet-Union, Ruanda und Äthiopien, werden dagegen in Montreal vertreten sein.
Als »schreckliche Musikbox-Architektur« hatten Fachkritiker jene Bauwerke gerügt, die -- vornehmlich von US-Industriefirmen -- für die New Yorker »World's Fair« errichtet worden waren. Dagegen glauben nun die Kanadier wenigstens Ansätze zukunftsweisender Bautechniken vorweisen zu können.
Und während die New Yorker Schau kopfnickende Disney-Dinosaurier eine mechanische Kuh sowie den »größten Käse der Welt« (aus Wisconsin) darbot und damit eher an eine Kuriositäten-Kirmes gemahnte. haben sich die Kanadier auf ehrwürdigere Weltausstellungs-Traditionen besonnen -- sie versprechen umfassenden Rundblick über Stand und Zukunft menschlicher Kultur.
»Mensch« heißt die 21 Meter hohe, 65 Tonnen schwere Stahl-Skulptur, die von dem amerikanischen »Mobile«-Erfinder Alexander Calder entworfen wurde und als symbolträchtiges Wahrzeichen der Ausstellung dient (wie einst das Atomium in Brüssel). Calder beeilte sich zu versichern, sein Stahl-Werk, das an einen sechsfüßigen Kran erinnert, solle »keine Idee ausdrücken, keine Bedeutung haben«; nur eben »zum Angucken« sei es da. Kosten: rund eine Million Mark.
Williger fügten sich die Pavillon-Gestalter aus den Gastländern der Sinngebung, die von der Ausstellungsleituung als Generalthema der Schau dekretiert worden war: »Der Mensch und seine Welt«, mit Variationen.
Vornehmlich präsentiert sich der Expo-Mensch 1967 wiederum als Hervorbringer von Technik. Vollautomatische Fabriken fertigen Fernseh-Apparate, französische Roboter-Maschinen minieren unter Wasser, ganze Computer-Kolonien rechnen zur Belehrung und Belustigung des Publikums. Amerikaner und Russen türmten Raumfahrt-Zubehör in ihren Pavillons.
In dem von acht Hochmasten getragenen Stahlnetz- und Plastik-Zelt der Deutschen, das von den Architektur-Professoren Frei Otto und Rolf Gutbrod entworfen wurde, wird demgegenüber ein deutlicher Zug zum Musealen vorwalten.
Berühmte Bewahrstücke sollen von deutschem Forscher- und Erfindergeist zeugen: Gutenbergs erste Druckpresse und der Welt erste Dynamomaschine (Werner von Siemens) wurden nach Montreal verschifft, desgleichen Gottlieb Daimlers Ur-Automobil, Rudolf Diesels erster Dieselmotor und Otto Hahns Berliner Arbeitstisch, auf dein die erste Spaltung des Atomkerns gelang. Ein Kreiskolbenmotor von Felix Wankel repräsentiert jüngere deutsche Technik-Geschichte.
Zukunftsweisend scheint auf der »Expo 67« noch am ehesten, was einige der beteiligten Architekten für die Ausstellung entwarfen. Das deutsche Zelt, dessen verblüffend kostensparende Leichtbauweise und Mobilität (das 10 000 Quadratmeter überspannende Stahlnetz-Zelt kann eingepackt und anderswo wiederaufgestellt werden), erregte den Beifall amerikanischer Kritiker ("New York Times": »Große Bauhaus-Tradition").
Auch die Schausteller aus den Vereinigten Staaten ließen ihren Pavillon nach avantgardistischen Bauprinzipien entwerfen, ersonnen von dem US-Architekten und Philosophen Buckminster Fuller: 60 Meter hoch erhebt sich über einem künstlichen See der bislang größte »geodätische« Kuppelbau der Welt, eine transparente Kugel aus 1900 Plastikscheiben. die in ein wabenförmiges Stahlgitter gefügt sind (Baukosten: 40 Millionen Mark).
Als bemerkenswertestes Bauwerk der kanadischen Ausstellung indes gilt »Habitat 67« -- eine nach Art von Lego-Bausteinen verschachtelte Wohnsiedlung, geplant von dem israelisch-kanadischen Architekten Moshe Safdie, 29.
Die neuartige Wohnmaschine -- stufenförmig zur Pyramide aufgetürmt -- besteht aus 158 vorfabrizierten Einbis Vier-Zimmer-Appartements, die auf zwölf Etagen durch Brücken und Straßen miteinander verbunden sind.
Zu jeder Wohnung gehören eine Terrasse sowie ein Dachgarten, der automatisch bewässert und gedüngt wird. Das Schachtelbauwerk kann in Höhe und Breite beliebig erweitert werden und soll auch nach Beendigung der Expo bestehen bleiben.
Sowjetische Architektur ist auf der Montreal-Ausstellung nicht zu besichtigen. Die Russen gaben ihren 60 Millionen Mark teuren, einer überdimensionalen Sprungschanze ähnelnden Pavillon (der später nach Moskau versetzt werden soll) bei italienischen Baufirmen in Auftrag.
Dennoch wird ureigenstes russisches Kulturgut gegenwärtig sein: 1100 Personen gleichzeitig werden in einer Super-Kantine des Sowjet-Pavillons die nationale Kohlsuppe »Borschtsch« speisen können. Und aus der Eremitage, Leningrads ruhmreicher Galerie, schafften die Sowjet-Schausteller etliche Pretiosen an, darunter einige Frühwerke des kommunistenfreundlichen Spaniers Pablo Picasso.
Delikatessen und bildende Kunst werden aus den meisten der 71 Ausstelländer in Montreal vertreten sein. Plastiken und Gemälde mit einem Versicherungswert von insgesamt 200 Millionen Mark werden den »Garten der Skulpturen, sowie die jeweiligen nationalen Schauräume zieren. In 38 Nationalitäten-Restaurants sind vom französischen bis zum thailändischen fast alle Küchendüfte dieser Welt vertreten. Teutonisches Bratgut feilzubieten, errichtete der Hühnerkönig Friedrich Jahn im Österreich-Pavillon eine »Wienerwald«-Station.
In überwältigender Massierung aber werden sich während der 183 Tage der kanadischen Expo 67 die darbietenden Künste produzieren. Zu einem rauschenden »World Festival«, einer Art Super-Salzburg, wird Künstlervolk in Hundertschaften anreisen: Wiens Philharmoniker und Moskaus Bolschoi-Ballett, die Mailänder Scala und japanisches Kabuki-Theater« Inszenierungen von Ingmar Bergman und Laurence Olivier, Shows mit Marlene Dietrich und Maurice Chevalier, ein Chor der Roten Armee und »Ringling Brothers & Barnum & Bailey«, der Welt größter Zirkus.
Montreals Expo-Manager legen Wert darauf, daß derlei Veranstaltungen unter dem Rubrum »Kultur« gewürdigt werden -- für »Vergnügungen« wurde, etwas abseits, eine Art Lust-Getto eingerichtet. »La Ronde«, das 54 Hektar große, 100 Millionen Mark teure Amüsier-Areal, beherbergt Unterhaltung für alle Altersstufen vom Kasperle-Theater bis zur Strip-Stätte »Lucifer« ("im Stile des Crazy Horse Saloon"). An den Beat-Schuppen für Twens grenzt ein Gehege mit 36 Känguruhs, die in ihrer australischen Heimat zuvor an Expo-Lärm gewöhnt worden sind: Sie wurden einige Monate hindurch mit Pop-Rhythmen beschallt.
Hauptattraktion des Amüsierparks ist das 65 Meter hohe »Gyrotron« -- eine gigantische Achterbahn, montiert in zwei Stahlgitter-Pyramiden. Die Gyrotron«-Tour (sieben Minuten) führt auf verschlungenen Spiral-Wegen durch den (simulierten) Weltraum, dann -- nach einem Rücksturz zur Erde -- durch glühende Lavamassen ins Innere eines feuerspeienden Vulkans und schließlich in den Rachen eines metallenen Ungeheuers.
Zwölf Millionen Esser erwarten die Sowjets an ihren Borschtsch-Kanonen. 35 Millionen Besucher, so hofft die Ausstellungsleitung, werden sich insgesamt an den Einlaßpforten scharen. Billettpreis: zehn Mark. Menü-Preise, durch Nepp-Bekämpfer kontrolliert: zwischen fünf und 20 Mark.
Doch anders als ihre New Yorker Vorgänger, die mit Gewinn gerechnet, dann aber mit 176 Millionen Mark Schulden abgeschlossen hatten, erwarten die kanadischen Veranstalter von vornherein Verlust.
Das kulturelle Anliegen, meint die Regierung, und Kanadas Ansehen in der Welt rechtfertigen das Defizit. 500 Millionen Mark -- so die vorläufige Schätzung -- seien dafür wohl zu verschmerzen.