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THEATER / GRUMBERG Kommt schon noch

aus DER SPIEGEL 18/1969

Das Fernsehen hat, einer blutigen Revolte halber, sein Programm unterbrochen, doch die Familie Duplantin braucht auf »die gewohnte Abwechslung nicht zu verzichten. Statt auf die Scheibe schauen Monsieur, Madame und der halbwüchsige Gérard eben mal zum Fenster hinaus:

Da unten auf dem Trottoir vorm Haus führen Regierungstruppen und Proletarier einen bestialischen Bürgerkrieg; im Hinterhof werden zu martialischen Chorälen allmorgendlich Rebellen erschossen, und Bürger Duplantin, die Hand am Feldstecher, genießt das Massaker wie eine Hurra-Reportage aus Vietnam: »Es brennt«, so ruft er befriedigt, »toll, was?«

Dieses »Festival der Grausamkeit und der Dummheit«, wie es die »Weitwoche« nannte, hat der französische Dramatiker Jean-Claude Grumberg, 30, zu seinem Theater-Debüt ersonnen: Grumbergs Erstling »Morgen, ein Fenster zur Straße«, vor Jahresfrist erfolgreich in Paris uraufgeführt ("Le Monde": »Nur ein Debüt -- aber was für eins!"), hatte jetzt seine Deutschland-Premiere.

Gleich zweimal am Erstaufführungstag, in Duisburg und in Düsseldorf, traten die Duplantins in Grumbergs »Revue täglicher Schlagzeilen aus der Weltpresse« ans Fenster zum Hof -- »sogenannte freie Menschen, deren Augen am Fernsehschirm hängen und deren Ohren am Radio kleben«.

Sie haben sich gut mit Vorräten versorgt, und ihr Leben geht den gewohnten Gang. Vor den Folgen der Revolution, die sie als Voyeure miterleben, glauben sie sich gefeit wie Max Frischs »Biedermann«, der die Brandstifter hereinläßt. Die neurotische Tochter des Hauses -- sie weigert sich zu gucken, zu essen, zu reden -wird mit Beruhigungsspritzen besänftigt; der häusliche Frieden dauert an.

Nicht lange freilich. Der Lärm des Krieges dringt ins Haus, ein Untermieter flüchtet aus seiner von den Regierungstruppen als Schießstand requirierten Mansarde zu den Duplantins; Nachbarn wollen, der Exekutionen im Hinterhof überdrüssig, nun auch die spannenderen Straßenkämpfe beobachten, und schließlich kommt ein schwarz-weißes Söldner-Duo mit einem Maschinengewehr in die gute Stube.

»Und ich habe gar nicht aufgeräumt«, zetert da die ehrbare Hausfrau, doch dann läßt sie ihren Sohn stolz aus dem Fenster schießen. Als er keinen Bürgerkrieger getroffen hat, empfängt er mütterlichen Trost: »Das kommt schon noch, mein Junge.«

Soviel dramaturgische Heimtücke, soviel schwarzer Humor »bereitete dem Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses Schwierigkeiten: Hausherr Karl Heinz Stroux besichtigte die Inszenierung seines Gastregisseurs Gerlach Fiedler, 43, während einer Probe und empfand sie als »unmöglich«.

Nach verschobener Premiere und einer Test-Vorstellung in Duisburg fand die deutsche Erstaufführung schließlich vor verärgerten Volksbühnenmitgliedern in Düsseldorf statt, die an diesem Abend eigentlich von der Wohlstandsfarce »Alles im Garten« des Amerikaners Edward Albee Zerstreuung erhofft hatten.

Schockiert von Grumbergs aggressiver Bürgerkriegs-Schau, verließ fast jeder zweite Besucher zur Pause die Vorstellung und versäumte die makabre Schlußpointe: Eine verirrte Fliegerbombe der Regierungstruppen legt die Familienidylle im Hause Duplantin berstend in Schutt und Asche.

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