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MEDIZIN / LEBER Kontakt überkreuz

aus DER SPIEGEL 18/1967

Nach Stunden bemaßen die Ärzte die Frist die der Patientin noch zu leben bliebe. Bei einer Unterleibsoperation hatte -- unvorhergesehene Nebenwirkung der Narkose -- ein lebenswichtiges Organ der Kranken aufgehört zu funktionieren: die Leber.

In dieser nach medizinischem Ermessen aussichtslosen Situation entschlossen sieh die Ärzte an der University of Washington in Seattle zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Sie betteten den Ehemann der Patientin neben das Krankenlager und verbanden mittels zweier Kunststoffschläuche den Blutkreislauf der Frau -- Arterie zu Arterie, Vene zu Vene -- mit dem ihres Mannes.

Stunde um Stunde pulsierte das Blut der Kranken durch den Körper ihres Mannes -- und durch seine Leber. Entschlackt und entgiftet strömte es zurück in den Organismus der Patientin.

Ende letzten Monats berichtete Dr. E. Donnall Thomas, Medizin-Professor an der University of Washington, über die Behandlung, die nunmehr eineinhalb Jahre zurückliegt. Insgesamt zehn Tage lang -- anfangs mit ihrem Ehemann, dann mit ihrem Vater -- war die damals Todgeweihte mit Hilfe des Blutaustauschverfahrens am Leben erhalten worden. Dann hatte sich ihre eigene Leber regeneriert. Seither fühlt sich die Frau, wie Dr. Thomas meldete, »wohl und gesund«. Erstmals zeichnet sich damit die Möglichkeit ab, einen Notzustand im menschlichen Körper zu beherrschen, gegen den die Ärzte bislang machtlos waren.

»Zentral-Laboratorium« haben medizinische Fachbücher das drei Pfund schwere Organ nahe der rechten unteren Brustrippe genannt, das zu den kompliziertesten und aufgabenreichsten des menschlichen Organismus zählt. Die Leber beherrscht unter anderem den Zucker-, Fett- und Eiweißstoffwechsel, entgiftet das von Magen und Darm kommende Blut und produziert die für den Verdauungsvorgang notwendige Gallenflüssigkeit.

Das blutgefäßreiche Organ ist für den Organismus unentbehrlich und bislang unersetzlich. Wenn die Leber, etwa im Gefolge einer Operation oder nach schweren Entzündungsprozessen, aufhört zu arbeiten, bleiben dem Kranken noch etwa 36 Stunden, in denen er dem Tod entgegendämmert. Anders als bei Herz. Lunge und Niere lassen sich die ungemein komplizierten chemischen Prozesse in der Leber bislang nicht in Apparaturen nachahmen.

In dem von Dr. Thomas geschilderten Fall übernahm die Leber eines anderen Menschen -- gleichsam als lebendes Pendant zu einer künstlichen Niere, die neben das Krankenbett geschoben wird -- alle Funktionen des plötzlich gestörten Organs der Patientin.

Schon in der ersten, neun Stunden währenden Bebandlungsphase durchströmte das Blut der Kranken mehr als 16mal den Körper des Ehemanns. Am Ende dieser Sofort-Aktion war die Patientin aus der Bewußtlosigkeit, dem Koma, erwacht. Aber ihre eigene Leber hatte sich noch nicht erholt; die Behandlung mußte mehrmals wiederholt werden. Nach fünf Tagen wurde der hilfreiche Ehemann vom Vater der Patientin abgelöst. Insgesamt wurden im Verlauf der -- mit Unterbrechungen -- zehn Tage währenden Behandlung 190 Liter Blut zwischen den Leber-Partnern ausgetauscht.

Daß der strömende Lebenssaft in dem geschilderten Fall gleichsam in der Familie bleiben konnte, verdankten die Beteiligten allerdings einem biologischen Zufall: Patientin, Ehemann und Vater hatten -- so die Voraussetzung für die Behandlungsweise -allesamt die gleichen Blutgruppenfaktoren.

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