Massenmord Kopf im Kühlschrank
Seine letzten fünf Opfer hat das »Monster von Milwaukee« (Sunday Times) immer auf die gleiche Weise malträtiert. Erst lockte er die meist homosexuellen Männer in seine Wohnung, betäubte sie mit einem Schlaftrunk und erdrosselte die Wehrlosen. Dann folgten Zerlegung der Körper, Auskochen der Schädel und mindestens in einem Fall »Analsex mit der Leiche« (ein ermittelnder Beamter).
Vorletzte Woche Montag rückte Jeffrey Dahmer, 31, von seiner Mord-Choreographie ab. »Blitzschnell fesselte er mein linkes Handgelenk«, berichtet der Schwarze Tracy Edwards, 32, der dem Soziopathen zum Biertrinken auf sein Zimmer gefolgt war: »Er sagte, er werde mir das Herz herausschneiden und es auffressen.« Doch der Kannibale war für eine Sekunde unachtsam: Edwards, unbetäubt, konnte seinem Peiniger die Faust ins Gesicht schlagen und ins Freie stürzen.
Der Alarmschrei des Flüchtlings hat der an Serienmördern reichen US-Geschichte einen weiteren Fall von multiplem Gemetzel beschert. Als die Polizei das Oxford Appartment 213 stürmte, schlug ihr ein Hauch von Verwesung entgegen: Vier abgesägte Köpfe im Kühlschrank, sieben Schädel, dazu ein Salzsäure-Bottich mit drei Torsi sowie Polaroidfotos von Verstümmelten wurden sichergestellt. Wegen des unsäglichen Gestanks mußten die Beamten mit Schutzanzügen und Sauerstoffmasken arbeiten. Dahmer ließ sich widerstandslos abführen.
Flankiert vom Sommerloch und dem Horrorfilm »Das Schweigen der Lämmer«, findet das grausige Geschehen reichlich Presse-Resonanz. In den USA, wo die Gruseltaten chronischer Killer immer stilechter in Buchform oder auf Zelluloid weiterverarbeitet werden, goutiert man die brutale Wirklichkeit als Drehbuch. Das Nachrichtenmagazin Newsweek tauchte sogleich in die »Geheimnisse« und die »bizarre Welt der Serienkiller« ab. Die Washington Post kommentierte launig, angesichts der Horrortaten würde selbst Hannibal Lecter, der nimmersatte Massenmörder aus »Schweigen der Lämmer«, »zum Vegetarier werden«.
Dahmer, der 17 Morde zugegeben hat und weiterer verdächtigt wird, zeigt sich seit seiner Entdeckung kooperativ. Bis Ende letzter Woche konnten mit seiner Hilfe 12 Personen aus dem Blutpuzzle identifiziert werden. Alle Getöteten sind männlich, 14 bis 28 Jahre alt, mindestens 8 davon Schwarze. Eine 40köpfige Sonderkommission des FBI ermittelt.
Daß der von der Bild-Zeitung zum »Jahrhundertmörder« aufgeblasene Irrwisch so lange unbehelligt blieb, schieben viele Psychologen auf seine tückische Verstellungskunst. Massenmörder seien »die beherrschtesten Leute, die man sich nur vorstellen kann«, meint der US-Psychologe Park Dietz. Auch der Kriminologe und Buchautor James Fox ("Massenmörder - Amerikas wachsende Gefahr") beförderte den Mythos des aalglatten undurchschaubaren Dämons. Triebtäter, meint Fox, seien »verschlagen, nicht verrückt«.
Daß Dahmers Tötungsenergie so ungezügelt ihren Lauf nehmen konnte, dafür gibt es indes bessere Erklärungen. Seine »private Schlachtbank« (Time) lag in dem verslumten Stadtteil Midtown, einer »high crime area« der 650 000-Einwohner-Stadt Milwaukee. Schwarze, Hispanos und asiatische Einwanderer bevölkern das Armenviertel, Fabriken und vergammelte Häuser säumen die Straßen. Nachts verwandelt sich die Gegend in ein Eldorado für Junkies, Prostituierte und Jugendbanden. »Die Kinder«, schreibt die New York Times, »schlafen hier mit dem Geräusch von Pistolenschüssen ein.«
Gleichsam Tür an Tür mit seinen Nachbarn und unter den Fittichen seiner Resozialisierungshelfer schlug der vorbestrafte Schokoladenfabrik-Arbeiter seine Blutschneise. Obwohl Mitbewohner häufig Schreie aus dem Appartement im zweiten Stock vernahmen, obwohl das Gekreisch einer Motorsäge durch die Wände dröhnte und seit Wochen der Flur nach Fäulnis roch, verständigte niemand die Polizei.
Zumindest in den letzten zwei Monaten muß Dahmers atavistischer Triebabgrund vollends aufgerissen sein. In einem Zeitraum von nur zwölf Wochen zerschnitt der Maniak mehrere Hundert Kilo Menschenfleisch in seiner Wohnung. Bewiesen ist bisher, daß der Süßwaren-Jobber am 24. Mai einen Taubstummen und am 27. Mai einen 14jährigen Jungen umbrachte. Im folgenden Monat, am 23. und 30. Juni, erdrosselte er zwei Homosexuelle. Am 8., 15. und 19. Juli folgten weitere Morde, ehe Dahmer drei Tage später, schon wieder blutdürstig, endlich gefaßt wurde.
Dieser entfesselte Mordrausch erinnert an Beobachtungen, die der US-Psychologe Robert Prentley anhand analysierter Triebtäter machte. Demnach hat der multiple Killer seine sadistischen Obsessionen in der Phantasie bis ins Detail durchgespielt und versucht dann, seine »Choreographie« in die Wirklichkeit umzusetzen. Da die einzelnen Morde jedoch, so Prentley, »niemals genau an die ursprüngliche Phantasie herankommen, entsteht das Bedürfnis, die Szene mit immer neuen Opfern auszuführen«.
Von Selbstkontrolle und kühler Verschlagenheit kann bei Dahmers Showdown jedoch keine Rede sein. Obwohl die Polizei Konservierungsmittel wie Formaldehyd und Äthylalkohol in seiner Wohnung fand, waren die von ihm angehäuften Fleischberge nicht mehr zu bewältigen. Neugierige Nachbarn vertröstete der Massenmörder mit immer abstruseren Ausreden. Mal erklärte er den Gestank mit seinem defekten Kühlschrank, mal nannte er verstopfe Abflüsse als Ursache. Ein Mitbewohner, der im Garten hinter dem Haus über Skelettreste stolperte, fluchte: »Verdammte Truthahn-Knochen.«
Robert Heck, Mord-Experte im US-Justizministerium, rechnet mit derzeit »35 und mehr« frei herumlaufenden Massenkillern im Lande. Daß von den Verrückten jeder »20 bis 30 Morde« verüben kann, ehe er entdeckt wird, liegt vor allem am sich ausbreitenden sozialen Bodensatz der US-Gesellschaft. Mangelnde Fürsorge, fehlende Resozialisierungsprogramme, hohe Kriminalitätsraten - im Windschatten solcher Verhältnisse können multiple Mörder ungestört zu Werke gehen.
Verhaltensauffällig war Dahmer, der blonde Junge aus Bath (Ohio), von Kindesbeinen an. Seinen Mitschülern galt er als »Sonderling« und »komischer Vogel«. »Jeffrey war gequält und verwirrt«, meint eine Klassenkameradin, »sein Benehmen lag immer an der Grenze.« Gesetzesverstöße blieben nicht aus. 1982 wurde Dahmer wegen Exhibitionismus vor Gericht zitiert. Sechs Jahre später setzte er einen 13jährigen unter Drogen, machte Aktfotos von dem Jungen und mißbrauchte ihn.
Für dieses Vergehen forderte die Staatsanwaltschaft eine sechsjährige Gefängnisstrafe. Der Richter William Gardner entschied anders. Weil der Strafvollzug in Milwaukee keine Therapie für abnorme Täter anbietet, lautete das Urteil auf zehn Monate Gefängnis und fünf Jahre Bewährung. Die Staatsanwälte ("Eine Behandlung im freien Vollzug wäre extrem hart") und auch Dahmers Vater ("Mein Sohn ist krank") klagten vergeblich eine kontrollierte Behandlung ein. Im März 1990 kam der Kinderschänder wieder auf freien Fuß.
Mit den gekürzten Sozialplänen der Reagan-Ära setzte sich das Unheil fort. Milwaukees überlastete Bewährungshelfer machten nicht einen einzigen Hausbesuch bei dem Maniak. Auch als Dahmer am 15. Juli dieses Jahres seinen Job hinschmiß und damit die Regeln für die Bewährung durchbrach, passierte nichts. Noch in derselben Nacht und dann noch einmal vier Tage später zersägte der Irrwisch je eines seiner Opfer.
Noch schwerer wiegt das Versäumnis von drei Streifenpolizisten. Bereits am 27. Mai hätte Dahmer auffliegen müssen. Mitbewohner hatten beobachtet, wie ein asiatischer Junge nackt und »am Hintern blutend« aus Dahmers 300-Dollar-Appartment gestürzt war. Als die Cops den radebrechend um Hilfe flehenden Laoten auf der Straße aufgabelten, tat der herbeigeeilte Triebmörder den Vorfall, wie das Protokoll ausweist, als »Erziehungsproblem mit seinem homosexuellen Gespielen« ab. Die Streife brauste davon. Dahmer zerrte den Jungen wieder in die Wohnung. Tags darauf war der 14jährige Konerak Sinthasomphone tot, sein Leichnam zerstückelt.
»Es ist eine Tragödie«, meint rückblickend Milwaukees Polizeichef Philip Arreola über die Fahndungspannen; die drei Polizisten wurden vorerst suspendiert. Auch der Bürgermeister der Stadt, John Norquist, münzte den Massenmord, wie er in vielen amerikanischen Großstädten geschehen könnte, abstrakt in ein »traumatisches Ereignis« für die Stadt um. Die Verwandte eines schwarzen Dahmer-Opfers nannte das Übel beim Namen: »Wenn einer im Armenviertel erschlagen wird, kümmert das kein Schwein.« Der Vorwurf trifft: Obwohl im Mai und Juni immer häufiger junge Männer aus der Umgebung von Milwaukee verschwanden, blieben polizeiliche Fahndungen aus. Dabei hatte Dahmer selbst eine heiße Spur gelegt. In vier Fällen rief er die Verwandten seiner Opfer an und verkündete mit Grabesstimme, man solle den Verschwundenen abschreiben, »weil ich ihn getötet habe«.
Am Donnerstag letzter Woche schlug der Unmut gegen die Polizei noch höhere Wellen. Wie der Milwaukee Sentinel berichtet, ist bereits Ende letzten Jahres ein 16jähriger Junge von Dahmer in dessen Wohnung mit einem Gummihammer attackiert worden. Der Junge konnte fliehen, verständigte die Polizei, fand aber bei den Wachhabenden keinen Glauben.
Den bisher einzigen Versuch, charakteristische Merkmale von Serienmördern zu erfassen, um damit chronischen Killern wie Dahmer schneller das Handwerk zu legen, unternahm Ende der achtziger Jahre die FBI-Akademie in Quantico (Virginia). 36 verurteilten Triebmördern wurden umfangreiche Fragebögen vorgelegt. Ergebnis der Profilstudie: Der typische Massenmörder ist männlich, weiß, 20 bis 40 Jahre alt; er kommt als erstes Kind der Familie zur Welt und versteigt sich bereits in seiner Kindheit in sadistische Phantasien.
Viele der Befragten, so der Leiter der Untersuchung, Robert Ressler, seien zudem als Kinder mißbraucht worden (43 Prozent) oder »schlimmen sexuellen Erlebnissen« ausgesetzt gewesen (73 Prozent). Weitere Charakteristika: Die Mutter, dominanter Elternteil, läßt sich früh vom Vater scheiden. Der Sohn besitzt einen hohen Intelligenzgrad, ist introvertiert, neigt zu Tagträumen und bleibt später im Berufsleben ohne feste Anstellung.
Zumindest der äußere Profilrahmen der Quantico-Studie stimmt weitgehend mit Dahmers Biographie überein. Bereits als kleiner Junge, sagt seine Stiefmutter, habe Jeffrey »Tiere in Säure aufgelöst und ihnen die Haut abgezogen«. Die Eltern Lionel, 57, ein Chemiker, und Joyce, 55, heute Aids-Beraterin in Kalifornien, warteten nur noch die Volljährigkeit ihres ersten Sohns ab, um die gescheiterte Ehe endlich aufzulösen. Mutter Joyce verschwand mit dem jüngeren Sohn an die Westküste, Jeffrey blieb allein zurück.
Einen Monat vor dem endgültigen Bruch entlud sich die Spannung in der Familie offenbar in einem ersten Mord. Dahmer hatte einen Tramper zu sich nach Hause gelockt, ihm mit einer Hantel auf den Schädel geschlagen, das Opfer zerschnitten und im Garten vergraben. Am Dienstag letzter Woche konnte die ermittelnde Mordkommission 50 Knochenteile an der besagten Stelle sicherstellen.
Im September 1978 schrieb sich Dahmer an der Ohio State University ein, brach aber das Studium sogleich wieder ab; er meldete sich zum Militär und wurde in der US-Garnison in Baumholder (Rheinland-Pfalz) stationiert. »Er war unheimlich intelligent«, sagt ein Bekannter. An Wochenenden habe Dahmer meist Martinis getrunken und sich über Kopfhörer apathisch mit Black-Sabbath-Musik zugedröhnt. Wegen Aufsässigkeit und ständigem Alkoholgenuß wurde dem Rekruten nach seiner Pflichtzeit gekündigt.
Daß der Milwaukee-Mörder auch in Deutschland mordete, ist nicht auszuschließen. Sein Zimmergenosse Michael Masters erinnert sich, daß der junge Soldat hin und wieder mit einem Freund Prostituierte besucht habe. Die Kriminalämter des Landes Rheinland-Pfalz haben zwar ein ganzes Schock ungelöster Mordfälle zusammengetragen, bisher jedoch führt keine Spur nach Amerika.
Zurück in den USA, schlüpfte der mißratene Sohn bei der Großmutter unter. Seine Sauf-Exzesse nahmen zu. Nach eigener Aussage hat Dahmer zwischen 1982 und 1988 in Omas Keller drei weitere Männer ermordet. Der Vater fand einen Topf mit einer schleimigen Flüssigkeit, in der Knochen schwammen; Sohn Jeffrey gab sie als Reste von Tierkadavern aus. »Wir hatten Angst, daß er mit dem Okkulten in Verbindung stand«, erklärte sich Stiefmutter Shari den Vorfall.
Der dunkelste Punkt in Dahmers Lebenslauf ist die Beziehung zu seiner Mutter, mit der er anscheinend seit Jahren in einem verhängnisvollen Clinch lag. Für lange Zeit war der Kontakt vollkommen abgebrochen. Am 25. März dieses Jahres jedoch, heißt es in einem Report, hätten die beiden nach fünfjährigem Schweigen erstmals wieder miteinander telefoniert. Nach dem Gespräch rastete Dahmer vollends aus - die Serie von mindestens noch acht Bluttaten folgte.
Welche Bedeutung die gestörte Mutterbeziehung für die Triebverirrungen des Sohnes hat, werden Gerichtsgutachter zu ergründen haben. Auch Triebtätern wie den Deutschen Fritz Honka und Joachim Georg Kroll und dem Knabenmörder Fritz Haarmann hatten Mediziner eine »hypertrophe Mutterbindung« attestiert. »Die Trennung von seiner Mutter«, meint Dahmers Stiefmutter, »hat er nie verwunden.«
Ganz am Ende des Desasters taucht das Motiv der Trennung und des Alleinseins, nun jedoch grauenhaft verwandelt, wieder auf. Dahmers letztes Opfer, der mit knapper Not seinem Mörder entwichene Tracy Edwards, berichtet: »Und er wollte doch, daß ich ihn nie verlasse. Aber weil er mich nicht lebend haben konnte, wollte er mich zerstückeln.«