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JAZZ / SUN RA Kosmisches Chaos

aus DER SPIEGEL 47/1970

»Er nennt sich »Sun« -- die Sonne -- und »Ra« nach dem altägyptischen Sonnengott. Er will »die Menschheit erleuchten«, und dazu wünscht er sich dringend ein Konzert »im Angesicht der Sphinx«.

»Sun Ra« ein etwa vierzigjähriger Neger, ist Jazzmusiker, und solange er nicht in Ägypten musizieren kann, gibt er sich mit Auftritten in der New Yorker Slum-Kneipe »Slug's« zufrieden: Dort erklingt nun schon seit Jahren an jedem Montag seine »heliozentrische Weltraummusik.

Wo immer Sun Ra mit seiner Big Band auftritt, wird er von fanatischen Gefolgsleuten umlagert, denn er ist -- so das Musikmagazin »Down Beat« -- »eine Art Buddha, nur daß er nicht ganz so viele Anhänger hat«.

Mehr oder weniger -- der deutsche Jazzkritiker Joachim Berendt gehört jedenfalls dazu. Vier Jahre lang hat er sich bemüht, diesen »Poeten des orchestralen Neuen Jazz« (Berendt) zu einer Europatournee zu überreden. Jetzt ist es ihm endlich geglückt.

Sun Ra stieg aus seiner silbern und golden tapezierten Drei-Zimmer-Wohnung an der Lower Eastside hernieder, wo er seine 20 Musiker täglich zu stundenlangen Musik-Meditationen versammelt und auch seine Plattenfirma »Saturn Records« regiert: Mitte Oktober und Anfang November spielte er mit dem sogenannten »Intergalactic Research Arkestra« beim Musikfest in Donaueschingen und bei den von Berendt geleiteten Berliner Jazztagen auf.

So recht freilich wußten die Europäer Sun Ras »Botschaften aus dem Weltall« nicht zu schätzen. Sie registrierten lediglich eine »lärmende Exotenschau« ("Stuttgarter Zeitung") und »katastrophalen Kitsch« ("Neue Zürcher Zeitung"): Mit bombastischen Heilsgesten dirigierte Sun Ra seine goldbehelmten, in Purpur gewandeten und mit Amuletten behängten Musikanten durch ein drittklassiges Tingeltangel-Programm. Zu dilettantischem Farben-Geflacker schleppten zwei schwarze Tänzerinnen In Tüll Sonnensymbole aus Messing über die Bühne; außerdem trat ein Feuerfresser auf.

Und was die Mannschaft des Propheten auf Moog-Synthesizer und Hohner-Clavinet, auf »Sonnenharfe«, »Drachentrommeln« und herkömmlichen Jazz-Hörnern zum besten gab, klang allenfalls wie »Kosmisches Chaos« (so ein Titel), meist aber nur wie Science-fiction-Programmusik.

Um ihn richtig zu verstehen, meint Sun Ra, brauche man »eine erleuchtete Seele«. Die aber, so scheint es, haben die wenigsten. Für die Mehrheit des Publikums ist der Astro-Jazzer, der sich auf Plattentaschen neben Kopernikus und Galilei abbilden läßt ("Ich habe die Musik der Planeten erforscht wie Kopernikus deren Umlaufbahn"), einer jener Quacksalber, Magier und Medizinmänner, wie sie die schwarze Getto-Subkultur der USA schon zu Hunderten hervorgebracht hat.

Seinen wirklichen Namen, sein Alter und seinen Geburtsort hält Sun Ra streng geheim: »Mein Tierkreiszeichen sind die Zwillinge, meine Ankunftszone die USA.« Er studierte Musik »bei Vater Gott« und spielte eine Zeitlang im Fletcher-Henderson-Orchester Klavier. Doch erst seit er sich -- vor knapp 20 Jahren -- zum musikalischen Hohenpriester seines privaten Sonnenkults geläutert hat, nehmen die Musiker beiläufig von ihm Notiz.

Als »wichtigen Big-Band--Leiter des Free Jazz« (Berendt) feiern ihn ein paar Jazz-Propagandisten erst seit kurzer Zeit. Sie wissen nicht mehr, wen sie auf ihren Platten und Festivals noch vorstellen sollen: Beim gegenwärtigen Mangel an neuen Jazzideen haben auch Scharlatane eine Chance.

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