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MEDIZIN Kräftiger Schub

Trotz »Kostendimpfungsgesetz« geht die Kostenexplosion im Gesundheitswesen weiter -- eine erste Bilanz für 1978 beweist es.
aus DER SPIEGEL 6/1979

Kein Gesetzentwurf war Westdeutschlands Kassenärzten so zuwider gewesen wie jener, mit dem die sozial-liberale Koalition den Kostenanstieg in der sozialen Krankenversicherung dämpfen wollte.

Sie setzten Protestanzeigen in die Zeitungen ("Die Regierungspläne müssen weg") und klebten Warnplakate ("An alle Bürger") an die Litfaßsäulen. Sie zogen im Arztkittel durch die Straßen, inszenierten »Aufklärungsveranstaltungen« und »Großkundgebungen« und drohten schließlich, ihre Patienten auf Krankenschein nicht mehr so gründlich zu behandeln wie bisher.

Doch als die Patienten die Kumpanei verweigerten, Bundestag und Bundesrat der Pression standhielten, schalteten die Mediziner auf geschmeidige Anpassung um. Sie beschlossen, mit der »Mißgeburt« (Ärztefunktionär Hans Joachim Sewering) Kostendämpfungsgesetz zu leben.

Als die Krankenkassen zum Jahreswechsel erste Bilanz zogen, zeigte sich: Nichts von dem, was die Ärztelobby prophezeit hatte, war eingetreten. Kein Kassenarzt mußte darben, im Gegenteil, jeder hatte seinen Wohlstand mehren können. Kein Praxisapparat mußte stillgelegt, keine Arzthelferin mangels Beschäftigung entlassen werden.

Die gesetzlichen Krankenkassen ebenso wie die Ersatzkassen haben 1978 nicht nur -- wie eh und je -- mehr Geld ausgeben müssen als im Jahr zuvor: zusätzlich insgesamt nahezu drei Milliarden Mark. Die Überschlagsrechnung zeigte auch: Just in jenen zwölf Monaten, in denen sich das Kostendämpfungsgesetz erstmals hätte voll auswirken sollen, hatte der Anstieg der Kassenausgaben wieder stärker zugenommen als im vorletzten Jahr.

Die rund 50 000 frei praktizierenden Kassenärzte hatten ihren Anteil dran. Schon im Frühherbst hatte das Standesblatt »Der Deutsche Arzt« die Medizinerleistung angekündigt: »Mehrere Kassenärztliche Vereinigungen melden für das 2. Quartal 78 zweistellige Zuwachsraten gegenüber dem 2. Quartal des Vorjahres für die ambulante ärztliche Behandlung.« Darunter sei eine Kassenärztliche Vereinigung (KV) »mit nahezu 14 Prozent«, und andere lägen »nicht weit darunter«.

So extrem war es nicht überall, aber übers Jahr gesehen, langten die Ärzte kräftig zu, wie die vom Bundesarbeitsministerium zusammengestellte Rohbilanz nun zeigt. Insgesamt 13,2 Milliarden Mark der Kassenbeiträge wurden an die Ärzte weitergereicht, genau 666 Millionen Mark mehr als 1977.

Allein von den Ortskrankenkassen kassierten die Widersacher der Kostendämpfung im Vergleich zu 1977 einen Zugewinn von 291 Millionen Mark. Und auch bei den Ersatzkassen hielten sie sich ran. Obwohl sie scheinbar selbstlos nominell auf jede Honorarerhöhung verzichtet hatten, funktionierte auch 1978 das bewährte Kassenarztrezept -- die Menge muß es bringen: 241 Millionen Mark, 6,2 Prozent, mußten ihnen die Angestellten-Krankenkassen mehr zahlen als im Jahr zuvor.

Auch die Zahnärzte wurden mit dem Kostendämpfungsgesetz fertig. Angesichts der zurückliegenden Einkommenssprünge der Zahnärzte hatte die durch das Gesetz geschaffene sogenannte »Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen« gemeint, 2,5 Prozent Honorarzuwachs müßten diesmal reichen. Doch daraus wurde nichts.

Die 27 600 Kassenzahnärzte setzten Bohrer und Zange intensiver als erwartet an. Allein für Zähneziehen und -füllen ("chirurgische und konservierende Behandlung") stellten sie 1978 den Krankenkassen 6,5 Prozent mehr Honorar in Rechnung als im Vorjahr, insgesamt 4,9 Milliarden Mark.

Nicht minder zufrieden konnten die Arzneimittelfabrikanten das erste Jahr der Kostendämpfung beschließen.

Sie hatten gleich zu Jahresanfang die Preise ihrer umschlagschnellsten Medikamente kräftig angehoben und dabei richtig gerechnet: Die Kassenärzte verschrieben in gewohnter Breite weiter. Insgesamt 10,5 Milliarden Mark, 7,4 Prozent mehr als 1977, mußten die Krankenkassen im vergangenen Jahr für die Arzneimittelversorgung ihrer Versicherten ausgeben. Eine »Welle von Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten in den ersten Monaten 1978« soll, abgesehen von der »Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent«, nach der Erkenntnis des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie Ursache des Übels sein.

Die Krankenkassen rätseln noch. Bislang haben sie nur herausgefunden: Die Statistik der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen widerspricht der griffigen These. Kränker als 1977 waren die sozialversicherten Bundesbürger im letzten Jahr nicht.

Sicher ist nur eines: Kostendämpfung, wie vom Gesetzgeber im Interesse der Beitragszahler herbeigesehnt, wird es auch 1979 nicht geben. Allen voran die Kassenärzte, so hat der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Hans Wolf Muschallik, angekündigt, wollen in diesem Jahr »mit härteren Bandagen« ihre Interessen wahren.

Bei den Ersatzkassen ist es ihnen bereits gelungen. Seit dem 1. Januar verdienen sie hier bei jeder »Einzelleistung« vier Prozent mehr. Und das dürfte, gestützt auf den üblichen Zuwachs, in der Menge für 1979 den zehnprozentigen Einkommensschub sichern.

Zufriedenstellen wird das die Doktoren kaum. Schon haben sie sich von cleveren Betriebswirten ausrechnen lassen, daß ihnen mindestens ein doppelt so hoher Zuwachs not täte, um den Lebensstandard abzusichern. Denn seit 1975, so verbreitet der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, sei ihr »Verdienst« um 16 Prozent abgesackt -- nicht in Mark und Pfennig, aber immerhin »kalkulatorisch«.

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