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Artikel 64 / 101

»Kriege führen für den Frieden«

Von Olaf Ihlau
aus DER SPIEGEL 13/1992

SPIEGEL: Herr Popper, mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus erfüllt sich eine Prophezeiung, die Sie bereits vor einem halben Jahrhundert abgegeben hatten. Ist das der Triumph des kritischen Rationalismus über die Feinde der offenen Gesellschaft?

POPPER: Ich habe keine solche Prophezeiung gemacht, weil ich der Ansicht bin, man soll keine Prophezeiungen machen. Ich halte die Einstellung für vollkommen verfehlt, die einen Intellektuellen danach einschätzt, ob er gute Prophezeiungen macht.

Die Geschichtsphilosophie in Deutschland, zumindest seit Hegel, glaubte immer, irgendwie prophetisch sein zu müssen. Ich halte das für falsch. Man lernt von der Geschichte, aber heute und jetzt endet die Geschichte. Gegenüber der Zukunft müssen wir eine ganz andere Einstellung haben als die, den Versuch zu machen, aus der Geschichte zu extrapolieren und sozusagen die Geschichtsbahnen weiter in die Zukunft zu verfolgen. _(* Mit Redakteur Olaf Ihlau in Poppers ) _(Landhaus bei London. )

SPIEGEL: Gut, wenn das schon keine Prophezeiung war, so haben Sie doch zumindest den Sieg der liberalen Demokratie über die Despotien erwartet.

POPPER: Unsere Einstellung der Zukunft gegenüber muß sein: Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht. Uns ist die Vergangenheit gegeben. Mit der können wir jetzt weiter nichts machen, obzwar wir auch für die Vergangenheit in einem anderen Sinn verantwortlich sind: nämlich zur Verantwortung gezogen zu werden für das, was wir gemacht haben. Für die Zukunft aber sind wir schon jetzt moralisch verantwortlich, und wir müssen ohne ideologische Brille das Beste tun - auch dann, wenn die Aussichten dafür nicht allzu günstig sind. Das Beste ist in ganz entscheidendem Sinn das am wenigsten Gewaltsame, das, was das Leiden, unnötiges Leiden, verringert.

SPIEGEL: Nun lamentierten aber schon zu Zeiten Lenins linke Kommunisten, was sich da in Rußland als Staatsideologie mit der Diktatur einer Partei etablierte, habe mit den ursprünglichen Theorien von Karl Marx, der auf die Revolution der Proletarier im industrialisierten Westen gesetzt hatte, wenig gemein.

POPPER: Dazu ist folgendes zu sagen: Der kommunistische Wahnsinn besteht im wesentlichen darin, und das findet sich schon in Marx, daß die sogenannte kapitalistische Welt als teuflisch angesehen wird. Das, was Marx Kapitalismus genannt hat, hat es nie auf der Welt gegeben, auch nie etwas Ähnliches.

SPIEGEL: Pardon, also den Manchester-Liberalismus mit seinen elenden Arbeitsbedingungen gab es nun wirklich.

POPPER: Sicher war die damalige Zeit furchtbar schwer für die Arbeiter, aber auch für andere Leute. Marx hat sich vor allem für die Arbeiter interessiert. Nur: Rein geschichtlich gesehen, ging es denen seitdem dauernd besser, während Marx behauptete, es gehe dauernd bergab und müsse dauernd bergab gehen.

SPIEGEL: Sie meinen seine Theorie von der absoluten Verelendung?

POPPER: Ja, und weil die Verelendungstheorie sich nicht erfüllte, hat man die Verelendung dann auf die Kolonien übertragen, was man heute Dritte Welt nennt . . .

SPIEGEL: . . . also die sogenannte Imperialismus-Theorie.

POPPER: Eine typische Intellektuellen-Formel und natürlich barer Unsinn. Denn Industrialisierung kann nicht Verelendung sein, das ist so klar wie nur etwas. Auch den Kolonien ging es dann zunehmend besser.

Was also war der sogenannte Kapitalismus? Es war Industrialisierung und Massenproduktion. Massenherstellung bedeutet, daß sehr viel produziert wird und daher sehr viele etwas bekommen. Denn viele Produkte brauchen einen großen _(* Kabelwerk in Birmingham nach einem ) _(Holzstich von 1868. ) Markt und daher viele Abnehmer. Marx hat den Kapitalismus mit der Hölle verglichen. Die hat es sowenig auf der Erdoberfläche gegeben wie die Dantesche Hölle. Lasciate ogni speranza - laßt alle Hoffnung fahren, das ist eine Idee der Danteschen Hölle, die Marx bewußt dem Kapitalismus zugeschrieben hat. Wenn der Kapitalismus mit Notwendigkeit zur Verelendung führt, dann ist der Umsturz der einzig mögliche Ausweg: die soziale Revolution.

Ich stehe unserer heutigen Gesellschaft sehr kritisch gegenüber. Da ließe sich viel verbessern. Aber unsere liberale Gesellschaftsordnung ist die beste und gerechteste, die es bisher je auf Erden gab. Sie entstand aus der, die Marx kannte, durch Evolution.

SPIEGEL: Bleibt überhaupt etwas übrig vom ethischen Appell der Marxschen Kapitalismus-Kritik im Anprangern sozialer Ungerechtigkeit? Schließlich hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich weltweit nicht gerade verringert.

POPPER: Den ethischen Appell hat es seit dem Mittelalter in verschiedenen Formen gegeben. Unter christlichen Denkern wie auch unter denen der Aufklärung war der ethische Appell die Hauptsache. Und die Gegner dieses ethischen Appells waren im wesentlichen die Romantiker.

SPIEGEL: Bei den Aufklärern denken Sie wohl vorwiegend an Kants Appell, die weltweite Verbreitung einer gerechten bürgerlichen Verfassung sei die höchste Aufgabe der Menschengattung, und der Chef-Romantiker ist für Sie dann Hegel?

POPPER: Ganz richtig. Das ist so ungefähr die romantische Gegeneinstellung gewesen: Ohne Krieg und ohne Gewalt geht''s nicht - das ist Hegels Anwendung seiner historischen Erfahrung. Doch wenn man die Idee durchführt, diese kriegerischen Erfahrungen der Vergangenheit auf unsere Zukunft anzuwenden, dann gibt es wirklich keine Hoffnung mehr: Unsere Waffen sind vernichtend geworden. An die Stelle des Stahlbades und des Blutbades, das unseren romantischen Vorvätern noch so erfrischend erschien, ist das allvernichtende atomare Strahlenbad getreten.

SPIEGEL: Was hat denn den Zusammenbruch in Osteuropa verursacht - ökonomische Auszehrung durch den Rüstungswettlauf, intellektuelle Austrocknung, Zweifel an der eigenen Mission?

POPPER: Da kam vieles zusammen: daß etwa die Ungarn die Grenzen öffneten für die flüchtenden Ostdeutschen; daß das sowjetische Politbüro Gorbatschow beauftragt hatte, einen Reformanlauf zu machen. Nur hat die Wirtschaftsreform überhaupt nichts genutzt. Die Wirtschaft kann man nicht von oben reformieren. Dazu kam die intellektuelle Ödnis. Vom Marxismus war nur noch leeres Gerede übriggeblieben und eine einzige inhaltsreiche Formel: »Liquidiert den Kapitalismus!« - den nicht existierenden teuflischen Kapitalismus. Das hat Chruschtschow in die Tat umzusetzen versucht.

SPIEGEL: Sie meinen das Pokern mit dem Aufstellen sowjetischer Atomraketen 1962 im Kuba des Fidel Castro?

POPPER: Chruschtschow hatte einen vernichtenden Überfall auf die USA geplant. Er wich erst zurück, als die Amerikaner bereit waren anzugreifen. Der Atomphysiker Andrej Sacharow hat in seinem Buch »Mein Leben« geschrieben, daß sogar »bei künstlich verminderter Stärke« sein superstarkes Produkt, wie er es nannte, die Stärke der Bombe von Hiroschima um mehrere tausendmal überstieg. Von diesen Sprengladungen waren 36 schon nach Kuba gekommen. Wenn man »mehrere« bloß durch drei ersetzt, so sind das 108 000 Hiroschima-Bomben. Das muß man sich einmal vorzustellen versuchen. In seiner Abschiedsrede sagte Gorbatschow, daß es von diesen Bomben rund 30 000 gibt.

Die Kuba-Krise offenbarte, wozu der Marxismus in seiner Zielsetzung fähig war: die gewaltsame Zerstörung des Kapitalismus mit Kernwaffen zu versuchen. Das darf man nie vergessen. Nicht nur Amerika wäre bei diesem Angriff zugrunde gegangen, die ganze Welt wäre im atomaren Strahlenbad zugrunde gegangen - obwohl das einige grauenhafte Jahre gedauert hätte.

SPIEGEL: Was verdankt die Welt dem Perestroika-Reformer Gorbatschow, der jetzt von seinen eigenen Reformen gefressen wurde?

POPPER: Sehr viel. Gorbatschow fing an, Amerika anders anzusehen als die sowjetischen Machthaber vor ihm. Er ist dort öfter hingefahren, hat sich gern feiern lassen. Dann hat er diese interessante und unmarxistische Formel aufgestellt: Ich will Rußland einen normalen Staat werden lassen. Das war eine Annäherung an unsere Idee des Rechtsstaates. Gorbatschow wollte Rußland normalisieren: Diese völlig neue Idee verdanken wir ihm. Und daß Rußland bis dahin kein normaler Staat war, kann man am klarsten aus der Selbstbiographie von Sacharow ersehen. _(* 1988 in New York mit Vizepräsident ) _(Bush und Präsident Reagan. )

SPIEGEL: Der spätere Dissident Sacharow hatte einst die Verbrechen Stalins als humanistische Taten im Sinne der sozialen Revolution gerechtfertigt.

POPPER: Als Stalin starb, hat Sacharow geweint. Da war er 31 Jahre alt, also kein kleines Kind mehr. Seiner Frau schrieb Sacharow in einem Brief: Ein großer Humanist sei gestorben. Er wußte natürlich über die Untaten Stalins; aber er glaubte damals, daß eine große Revolution alle diese Untaten braucht.

SPIEGEL: Später hat sich Sacharow radikal gewandelt. Was müssen die Intellektuellen und die orakelnden Propheten aus dem Zusammenbruch des Kommunismus lernen?

POPPER: Wir Intellektuellen müssen vor allem lernen, bescheidener zu sein. Die ungeheure Unbescheidenheit der Intellektuellen, das ist etwas Gräßliches. Aber ich fürchte, die richtigen Marxisten werden bleiben, was sie immer waren. Sie werden weiterhin danach trachten, das teuflische kapitalistische System zu liquidieren.

SPIEGEL: Der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und das Ende der Bipolarität haben die Welt nicht sicherer gemacht. Weltweit müssen wir uns mit der Rückkehr der nationalistischen Dämonen, mit vagabundierenden Atomwaffen und Armutswanderungen auseinandersetzen. Sind das die neuen Feinde der liberalen Demokratien?

POPPER: Unser erstes Ziel heute muß der Friede sein. Der ist sehr schwer zu erreichen in einer Welt wie der unseren, wo Leute wie Saddam Hussein und ähnliche Diktatoren existieren. Wir dürfen hier nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen. Das ist unter den gegenwärtigen Umständen unvermeidbar. Es ist traurig, aber wir müssen es tun, wenn wir unsere Welt retten wollen. Die Entschlossenheit ist hier von entscheidender Bedeutung.

SPIEGEL: Krieg führen, um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu stoppen?

POPPER: Es gibt derzeit nichts Wichtigeres, als die Verbreitung dieser Wahnsinnsbomben zu verhindern, die schon am schwarzen Markt gehandelt werden. Die Staaten der zivilisierten Welt, die nicht verrückt geworden sind, müssen hier zusammenarbeiten. Denn noch einmal: Eine einzige Sacharow-Bombe entspricht der Stärke von mehreren tausend Hiroschima-Bomben. Das heißt, daß in jedem dichtbesiedelten Staat die Detonation einer einzigen Bombe Millionen Opfer fordern würde, ganz abgesehen von den Strahlenopfern, die im Laufe vieler Jahre an den Folgen zugrunde gehen würden. An diese Dinge darf man sich nicht gewöhnen. Hier muß gehandelt werden.

SPIEGEL: Die Amerikaner sollten also erneut gegen Saddam vorgehen, wenn es Anzeichen gibt, daß er sich die Bombe verschafft?

POPPER: Nicht nur gegen Saddam. Es muß eine Art Einsatztruppe der zivilisierten Welt für solche Fälle geben. Im überholten Sinne pazifistisch vorzugehen wäre Unsinn. Wir müssen für den Frieden Kriege führen. Und selbstverständlich in der am wenigsten grausamen Form. Die Verwendung der Bombe muß, da es sich um Gewalt handelt, mit Gewalt verhindert werden.

SPIEGEL: Da reden Sie beinahe schon wie die Strategen des Pentagon, die sich eine neue Weltordnung im Zeichen der Pax americana wünschen, die zugleich auch die Wirtschaftskonkurrenz aus Japan und Europa in Schach hält.

POPPER: Ich halte es für verbrecherisch, so zu reden: Die Notwendigkeit, den Kernkrieg zu verhindern, darf man nicht mit Wirtschaftsfragen zusammenbringen. Wir sollten uns bemühen, in dieser Pax americana so aktiv mitzuarbeiten, daß es eine Pax civilitatis wird. Das ist einfach die Notwendigkeit der gegenwärtigen Situation. Es geht hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um das Überleben der Menschheit.

SPIEGEL: Bei massiver Hilfe des Westens wäre es nicht zum Moskauer August-Putsch und seinem anschließenden Fall gekommen, hat Gorbatschow soeben bei seinem Deutschland-Besuch geklagt. Muß der Westen mehr für Boris Jelzin tun, um das Versacken Rußlands in einer noch schlimmeren Despotie zu verhindern?

POPPER: Ich glaube, wir müssen helfen. Doch Gorbatschow hat kein Recht, sich zu beklagen. Wir verdanken ihm viel; aber er hat weiter gerüstet. Für unsere Hilfe muß es eine Bedingung sein, daß die Russen mit uns, den zivilisierten Staaten, zusammenarbeiten, um diese fürchterlichen Waffen wirklich unter Kontrolle zu bringen. Nur: Da muß das russische Militär mitspielen.

SPIEGEL: Nach Ihrer Überzeugung leben wir in der besten und gerechtesten Gesellschaft, die es je gab. Zur Beseitigung des Massenhungers in der Dritten Welt oder der Umweltzerstörung hat diese liberale Demokratie gleichwohl keine überzeugenden Lösungen anzubieten.

POPPER: Wir sind mehr als fähig, die ganze Welt zu füttern. Das ökonomische Problem ist gelöst: von der Technik her, nicht von den Ökonomen.

SPIEGEL: Aber Sie werden doch kaum bestreiten können, daß es in weiten Teilen der Dritten Welt Massenelend gibt?

POPPER: Nein. Aber das ist hauptsächlich auf politische Dummheit der Führer in den verschiedenen Hunger-Staaten zurückzuführen. Wir haben diese Staaten zu schnell und zu primitiv befreit. Es sind noch keine Rechtsstaaten. Dasselbe würde geschehen, wenn man einen Kindergarten sich selbst überließe.

SPIEGEL: Sind Wirtschaftskonflikte heute die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln? Europa und die USA fürchten, daß sie den Chip-Krieg gegen die Japaner verlieren.

POPPER: Alle diese Probleme sind nicht ernst zu nehmen und sollten nicht so besprochen werden. Diese Art zu reden ist das, was ich die zynische Geschichtsauffassung nenne - die Intellektuellen wollen gescheit sein, statt zu helfen. Die Japaner sind wirklich zivilisiert. Mit ihnen kann man reden. Aber es gibt immer wieder nur die Dummheit, bei uns und auch in Japan natürlich.

SPIEGEL: Dummheit - meinen Sie in diesem Fall wirtschaftliche Eroberungsstrategien?

POPPER: Ja. Japan hat große Probleme, es ist übervölkert. Aber darüber kann man später reden. Leider sind es immer wieder die Journalisten, die diese Sachen falsch verstanden haben und eine Sensation wollen. Wir haben schon genug Sensationen.

SPIEGEL: Das Ganze ist doch nicht bloß eine Erfindung der Journalisten. Die derzeitige Kampagne in den USA »Kauft keine japanischen Waren« zeugt von einem tiefergehenden Gefühl der Konfrontation.

POPPER: Diese Konfrontation ist Unsinn. Das Ganze ist nicht wichtig. Japan ist im Augenblick überhaupt nicht imperialistisch. Zwar hat es die Industrie und die Möglichkeiten, jederzeit Massenvernichtungswaffen herzustellen. Doch die Japaner wissen, was das bedeuten würde.

Meiner Meinung nach ist die theoretische Nationalökonomie irgendwie intellektuell zum Stillstand gekommen, steckengeblieben in den gegenwärtigen Problemen. Aber die Probleme sind alle lösbar. Kein Millionär ist bisher an Reichtum gestorben. Und wir sind, verglichen mit der Welt der Vorkriegszeit, in Deutschland jetzt alle Millionäre.

SPIEGEL: Ganz offenbar trägt aber die exzessive Nutzung des Reichtums an Ressourcen auch zur Verpestung unseres Planeten bei. Stichwort: Ozonloch.

POPPER: Man kennt doch diese Dinge noch nicht. Die Ozonlöcher können seit Millionen Jahren existiert haben. Möglicherweise haben die keine Beziehung zu irgend etwas Modernem.

SPIEGEL: Namhafte Wissenschaftler sehen das anders. Sie glauben sehr wohl an einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Chlorkonzentrationen und der Zerstörung der Ozonschicht.

POPPER: Namhafte Wissenschaftler haben nicht immer recht. Ich behaupte nicht, daß sie unrecht haben - nur daß wir oft weniger wissen, als wir glauben.

SPIEGEL: Da sind wir bei Themen, zu denen Sie sich gern mit den Grünen anlegen, die Sie bisweilen recht ruppig attackieren. Warum eigentlich?

POPPER: Wegen ihrer wirklich verrückten Feindlichkeit gegen Naturwissenschaft und Technik. Es gibt einen antirationalistischen Kern in den Grünen. Das führt zu dem genau Umgekehrten, was sie angeblich wollen. Außerdem wollen sie selbst Macht haben und sind ebenso Heuchler, wie sie es von ihren Gegnern behaupten.

Den Umweltkatastrophen liegt die Bevölkerungsexplosion zugrunde, die wir ethisch lösen müssen. Es dürfen wirklich nur noch gewollte Kinder auf die Welt kommen.

SPIEGEL: Wie wollen Sie das erreichen, durch staatliche Vorschriften wie in China?

POPPER: Nicht durch staatliche Vorschriften, sondern durch Erziehung. Ungewollte Kinder sind gefährdet, und zwar moralisch. Die Leute, die sie nicht wollen, sollen die Mittel haben, sie nicht zu bekommen. Die Mittel existieren jetzt, ich meine die Abtreibungspille.

SPIEGEL: Da haben Sie die katholische Kirche und den Papst gegen sich.

POPPER: Die Kirche und der Papst werden nachgeben, besonders dann, wenn man mit wirklich überzeugenden ethischen Gründen kommt. Ich denke an solche Gründe wie Vergewaltigung, an die Geburt von Kindern, die mit Aids infiziert sind oder die in Hungerländern praktisch ohne Lebenschance zur Welt kommen. Es ist ein Verbrechen, solchen Kindern nicht dadurch zu helfen, daß man verhindert, daß sie geboren werden. Hier muß und wird die Kirche nachgeben, das ist nur eine Frage der Zeit.

SPIEGEL: Herr Popper, wir würden jetzt gern auf einige Fragen zu sprechen kommen, die Deutschland betreffen. Zu den Veränderungen der Machtbalance in Europa gehört auch ein wiedervereinigtes, stärkeres Deutschland. Gibt es für die Nachbarn Anlaß zur Sorge?

POPPER: Natürlich gibt es das. Die gegenwärtige Situation in Deutschland - politisch und moralisch - ist aber viel besser, als man hoffen konnte. Das spricht für die fundamentale Vernunft der Menschen. Aber man weiß nicht, was die Zukunft bringt. Es gibt eine Paradoxie im Wohlergehen der Menschheit: Das Wohlergehen der Menschheit beruht auf einer wirklichen Wachsamkeit gegen eine Menge Gefahren, aber das Wohlergehen vernichtet auch die Wachsamkeit. Die Freiheit wird leicht zu etwas Selbstverständlichem. Das bedeutet dann, daß man eben wieder einem Diktator zum Opfer fällt. In Österreich hat sich das schon mehr oder weniger angedeutet.

SPIEGEL: Das kann man doch wohl kaum sagen, Sie denken da vermutlich an den FPÖ-Rechtsausleger Jörg Haider?

POPPER: Ja, dort sind die jungen Leute begeistert über den Haider. Es hängt mit der Dummheit ihrer Erziehung zusammen. Haiders Ideal ist der Hitler. Er würde gern tun, was Hitler getan hat.

SPIEGEL: Das sagt er nun allerdings wirklich nicht.

POPPER: Er sagt es deutlich genug, daß man es heraushören kann. Für die, die hören wollen, sagt er''s.

SPIEGEL: Deutschland hat innerhalb von 60 Jahren zwei totalitäre Systeme erlebt. Gegenwärtig geht es um die Bewältigung des SED- und Stasi-Unrechtsstaates. Wie läßt sich politische Schuld messen, können wir im Westen moralische Richter sein?

POPPER: Wir können sicher moralische Richter sein über die Führergruppe der einstigen DDR, über die eigentlich Verantwortlichen. Daß man versucht, den Honecker vor Gericht zu stellen, halte ich für sehr wichtig.

SPIEGEL: Sie plädieren also nicht für eine breitgefächerte Vergangenheitsbewältigung im Fegefeuer öffentlicher Anprangerungen, sondern für die Behandlung exemplarischer Fälle?

POPPER: Es ist von größter Wichtigkeit, daß wir mit einem Minimum an Rache und ähnlichen Abscheulichkeiten wie die, die begangen wurden, auskommen.

SPIEGEL: Und ohne Bigotterie.

POPPER: Auch ohne Bigotterie. Das Gericht muß mit größter Vorsicht vorgehen. Der Prozeß wird sich auf die Verbrechen der vormaligen Führer beschränken müssen, auf höchstens 150 Mann. So weit sollte man gehen, aber mehr kann man einfach nicht machen - unter anderem, weil die Dinge sonst damit trivialisiert würden.

SPIEGEL: Und die Mitläufer wollen Sie aussparen, weil Menschen nun einmal keine Helden sind und sich in einer totalitären Gesellschaft arrangieren, um ein weitgehend normales Leben führen zu können?

POPPER: Das ist richtig. Den Mitläufern kann und soll man nicht zuviel antun. Zum großen Teil haben sie Angst gehabt: Das ist ja die Methode des Terrorismus, Angst einzujagen. Allerdings: Irgendwo fängt das Heldentum für jeden an, nämlich dort, wo man gezwungen wird, aktiv Gemeinheiten und Übel zu begehen. Da muß man dann eben doch ein Held sein und Widerstand leisten.

SPIEGEL: Der neokonservative Philosoph Francis Fukuyama, derzeit in Amerika in Mode, sieht mit dem Ende ideologischer Konflikte und der weltweiten Verbreitung liberaler Demokratie schon »das Ende der Geschichte« gekommen. Mit dem Sieg der Demokratie sei gleichsam der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit erreicht.

POPPER: Das sind so Phrasen, dumme Phrasen. Es gibt keine philosophischen Wunder. Übrigens hat auch Marx gesagt, daß mit der »sozialen Revolution« das Ende der Geschichte erreicht werde, da ja die Geschichte nur eine Geschichte der Klassenkämpfe sei.

SPIEGEL: Bei Fukuyama schimmert jemand durch, den Sie nicht sonderlich schätzen: Hegel mit seiner Theorie vom historischen Prozeß, der in einer Abfolge von Widersprüchen schließlich sein Ziel erreicht mit der Realisierung der Freiheit auf Erden.

POPPER: Natürlich. Hegel würde Ja dazu sagen, denn er sah in der Geschichte eine Geschichte der Macht. Das war sie auch zum großen Teil. Unsere Geschichtsbücher waren nie Werke, in denen die geistige Entwicklung der Menschheit als Hauptthema angesehen wurde, sondern die Geschichte der Macht.

Selbstverständlich brauchen wir ein Ende der Geschichte, nämlich ein Ende der Machtgeschichte. Das ist notwendig geworden durch die Waffen. Es war immer notwendig moralisch, aber jetzt ist es durch den Überschuß der Waffen lebensnotwendig geworden.

SPIEGEL: Sie selbst haben schon vor Hiroschima geschrieben, eines Tages werde der Mensch von der Erdoberfläche verschwinden.

POPPER: Warum nicht? Es gibt unabsehbare Gefahren. So wie wir alle sterben, wird wahrscheinlich auch die Menschheit sterben, vielleicht werden wir eines Tages mit dem Sonnensystem zugrunde gehen. Aber über diese Dinge herumzureden oder auch nur an diese Dinge zu denken hat keinen Sinn. Wahrscheinlicher ist, was ich lange vor Aids, wenn Sie wollen, vorausgesagt habe, daß irgendeine Mikrobe uns fressen wird. Das kann sehr schnell gehen. Jederzeit. Aber bis dahin können auch noch viele Jahrtausende vergehen.

SPIEGEL: Noch einmal: Es gibt also kein Gesetz des Fortschritts, keinen logischen Endpunkt?

POPPER: Alles das gibt es nicht. Was es wirklich gibt, ist unsere riesige Verantwortung: Wir dürfen nicht grausam sein. Zum Beispiel zu erlauben, daß Aids-Kinder zur Welt kommen, ist einfach unfaßbar. Auch für die Kirchen muß als erste Einstellung zum Leben gelten: keine Grausamkeit.

SPIEGEL: Herr Popper, Sie sind jetzt fast 90 Jahre alt und haben sich stets als Optimist von Grund auf bezeichnet. Aber dieses Gespräch hatte doch einige sehr pessimistische Noten - neue Erkenntnisse am Lebensabend?

POPPER: Optimismus ist Pflicht. Man muß sich auf die Dinge konzentrieren, die gemacht werden sollen und für die man verantwortlich ist. Was ich in diesem Gespräch gesagt habe, hat den Zweck, Sie und andere Leute dazu zu bringen, wachsam zu bleiben. Wir müssen dafür leben, daß es unseren Enkeln womöglich noch besser geht als uns - und nicht bloß wirtschaftlich.

SPIEGEL: Herr Popper, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. *VITA-KASTEN-2 *ÜBERSCHRIFT:

Karl Raimund Popper *

gilt als bedeutendster Wissenschaftsphilosoph der Gegenwart. Mit seinem »kritischen Rationalismus« und als Anwalt der »offenen Gesellschaft« liberaler Demokratien wurde Popper zum streitbaren Gegner von linken Utopisten und revolutionären Systemveränderern. Für Sozialdemokraten, die den Marxismus als totalitäre Idee verwerfen, avancierte der Sozialwissenschaftler zu einer Art Leitbild: Helmut Schmidt zählt zu Poppers Bewunderern. Der in Wien geborene Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts emigrierte 1937 nach Neuseeland und wohnt seit 1945 in England. Seine Grundthesen entwickelte Popper in dem 1945 erschienenen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«. Der Philosoph, der Ende Juli 90 Jahre alt wird, sollte vergangenen Sonntag in Weimar die Goethe-Medaille erhalten.

* Mit Redakteur Olaf Ihlau in Poppers Landhaus bei London.* Kabelwerk in Birmingham nach einem Holzstich von 1868.* 1988 in New York mit Vizepräsident Bush und Präsident Reagan.

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