MEDIZIN Kritische Grenze
Als ihn die Retter endlich aus dem Auto zerren und ans Ufer ziehen konnten, war Brian Cunningham blau angelaufen. Seine Pupillen waren starr, und auch der Puls des Reglosen war nicht mehr fühlbar.
»Tod durch Ertrinken«, schrieben die Patrouillen-Männer in den Polizeibericht. Cunningham, ein 18jähriger Student, hatte 38 Minuten auf dem Grund des Teichs gelegen.
Auf dieselbe Art wurde ein 42 Jahre alter Arzt für tot erklärt, der beim Schwimmen plötzlich von der Oberfläche eines Sees in Michigan verschwunden war. Ihn holten die Helfer eine Viertelstunde später aus der Tiefe.
In der Statistik von Dr. Martin J. Nemiroff jedoch, einem Tauchspezialisten des Michigan Medical Center in Ann Arbor, werden die früh Totgesagten unter dem Rubrum »Überlebende« geführt -- dank dem Bemühen zweier Ambulanzbesatzungen, die sich strikt an einen Durchhalte-Appell von Nemiroff gehalten hatten.
Statt vor den Merkmalen des nassen Tods zu kapitulieren, so hatte der Uni-Mediziner allen Notärzten und Lebensrettern im Bereich Ann Arbors eingeschärft, solle versucht werden, jeden Ertrunkenen wiederzubeleben -- »unverzüglich« und selbst dann noch, »wenn sie mehr als eine halbe Stunde unter Wasser waren
Mit Erfolg, wie sich alsbald herausstellte, hatte Nemiroff, 36, damit gegen einen schulmedizinischen Glaubenssatz verstoßen.
Allenfalls vier bis fünf Minuten, so die bisherige Zeitnorm, könne ein Mensch unbeschadet unter Wasser überstehen. Dann würde der Sauerstoffgehalt im Blut derart verarmt sein, daß die Gehirnzellen unweigerlich abzusterben begännen -- falls nicht schon zuvor Ersticken oder Herzstillstand den Tod verursacht hätte.
Professor Nemiroffs Bilanz rüttelt indes an der Regel. Von 15 Ertrunkenen, die jeweils länger als vier Minuten unter der Wasseroberfläche waren, hatten am Ende elf ohne bleibende Schäden überlebt. Zwei waren gestorben, aber nur in zwei weiteren Fällen kam es zu den befürchteten chronischen Hirnschädigungen.
In der August-Ausgabe des »Scientific American« wird nun erläutert, warum heroische, »wenn nötig stundenlange Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung« (Nemiroff) solchen Erfolg bewirken könnten.
Er beruht auf einer Art von körperlicher Automatik namens »Tauch-Reflex«, der schon 1963 ausführlich beschrieben wurde -- am Beispiel von Meeressäugetieren und ebenfalls im »Scientific American«.
Wale und Tümmler, so der US-Zoologe P. F. Scholander damals, würden bis zu zwei Stunden ohne Luft auskommen, weil sich ihr Blutkreislauf dabei zielgerecht verändere: Flossen, Haut und Speckschichten würden weitgehend vom Blutstrom ausgespart, lebenswichtige Organe jedoch desto nachhaltiger versorgt.
Nemiroff nimmt an, daß der Reflex beim Menschen ähnlich abläuft -- vorausgesetzt, die Wassertemperatur ist merklich tiefer als diejenige der Luft.
In diesem Fall, so die These Nemiroffs, würde das Herz eines Ertrinkenden beginnen, langsamer zu schlagen, während sich die »peripheren Arterien« verengten: Auf Kosten von Haut, Muskulatur und strapazierfähigen Organen, wie etwa dem Darm, würde nun der Sauerstofftransport zwischen Herz und Hirn verstärkt.
»Mit der Kälte des Wassers steigen auch die Überlebenschancen«, faßt Nemiroff seine Erfahrungen zusammen. Durchweg waren die Davongekommenen in Gewässern abgesackt, bei denen das Thermometer weniger als 21 Wärmegrade zeigte. Sie stellten Nemiroffs »kritische Grenze« dar, über welcher die vierminütige Gehirntod-Norm doch wieder bestätigt wird. Hätte seine Schützlinge das Mißgeschick in lauwarmen Swimming-pools ereilt, so wäre kaum einer vor dem Tod bewahrt worden.
Mit den besten Überlebenschancen ausgestattet ist ausgerechnet eine vom nassen Tod besonders stark bedrohte Gruppe: Kinder, von denen allein in Westdeutschland jährlich 500 im Wasser sterben -- nach Verkehrsunfällen die häufigste Todesursache.
Sieben der Nemiroffschen Schützlinge waren Kleinkinder bis zu vier Jahren -- mit einem ausgeprägten, offenbar noch aus dem fruchtwassergefüllten Uterus herrührenden Tauch-Reflex. Melvin beispielsweise, ein Zweijähriger, trieb 20 Minuten kopfunter unter Wasser. Doch seine Mutter brachte den Jungen durch prompte Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung wieder zu sich.