ARCHITEKTUR »Künstlich, wie in einer Raumstation«
Fast zwei Kilometer hoch, mit 528 Stockwerken, sollte der Stahlbetonbau aufragen, den der damals 87jährige Frank Lloyd Wright im Jahre 1956 konzipierte. Den Bauplan verwahrt die Chicagoer Stadtverwaltung. Neun Jahre später, im Herbst 1965, veröffentlichte der Londoner Hochhaus-Architekt Wilem W. Frischmann einen Bau-Plan, der das Vermächtnis Frank Lloyd Wrights noch übertrumpfte: einen Wolkenkratzer, 850 Stockwerke hoch. 500 000 Menschen würden darin wohnen, arbeiten und sich vergnügen können -- das Ganze auf einem Geviert von 120 mal 120 Meter, das oberste Geschoß in mehr als drei Kilometer Höhe:
Frischmann hatte die Statik für eine solche Stadt im Turm durchgerechnet. Ergebnis: »Sie ist technisch möglich.«
412 Meter hoch ist schon das »World Trade Center« in New York, das gerade fertig wurde. Viermal so hoch, eine Meile vom Erdgeschoß bis zum Dach, »könnten wir noch in diesem Jahr anfangen zu bauen« -- so verkündete vorletzte Woche L. E. Robertson, einer der »World Trade Center«-Konstrukteure.
Robertson war einer von 570 Architekten, Soziologen und Ingenieuren aus insgesamt 44 Ländern, die sich in der amerikanischen Stahl-Stadt Bethlehem (US-Staat Pennsylvania) zur »Ersten internationalen Wolkenkratzer-Konferenz« zusammengefunden hatten. Der Architekt aus New York formulierte auch das Leitthema der Konferenz: »Wollen wir das wirklich«?« Robertson: »Die Frage ist nicht, ob ein solches Gebäude errichtet werden kann, sondern ob es errichtet werden soll.«
Einhellig waren die Meinungen dazu nicht. Ibrahim Adham El-Demirdash beispielsweise, Architektur-Professor an der Universität in Kairo, schwärmte. daß der Mensch eben nicht den kriechenden Würmern gleich sei« sondern dazu angetreten, die dritte, vielleicht gar eine vierte Dimension für sich zu erobern: »Wer ins 50. Stockwerk eines Wolkenkratzers zieht, der muß sich eben daran gewöhnen -- wie der erste Fisch, der auf das Festland kroch.«
Vorläufer bei diesem neuen Schritt der Evolution sind vielleicht schon die Mieter des 100 Stockwerke hohen »John Hancock«-Wohn- und Büroturms in Chicago, deren Lebensgewohnheiten jüngst erfragt wurden.
»Hinreißend« sei mitunter die Aussicht, bekundeten die meisten -- sie genießen Fernblicke »auf den Smog von vier amerikanischen Bundesstaaten": Illinois, Indiana, Michigan und Wisconsin. Wohl ebensooft aber sehen sie gar nichts. »Manchmal«, so der Hancock-Mieter Thomas Ramsier, »wachst du buchstäblich über den Wolken auf, und du ahnst nicht, daß es unten auf der Erde regnet.«
Den Hund auszuführen, beklagten etliche Hancock-Insassen« gleiche einer größeren Expedition. Zeitunglesend, mit ein- oder zweimaligem Umsteigen wie sonst Pendler in der U-Bahn, bewegen sich viele Hancock-Bewohner mit dem Fahrstuhl zwischen Arbeitsstätte und Wohnung. Und monatelang, bis die Bauherren eine Sichtblende aufstellen ließen, huschte allabendlich jede Minute einmal der zwei Milliarden Kerzen helle Reklameblitz vom »Playboy«-Hauptquartier durch die Wohnzimmer.
»Es ist alles so künstlich hier«, befand Hancock-Bewohnerin Ruth Wyatt. »Alles geht per Druckknopf, kein Fenster geht aufzumachen. Nach einer Weile fühlt man sich wie in einer Raumstation.«
Vom psychischen und physischen Stress. dem Hochhaus-Bewohner ausgesetzt sind, berichteten auch aus anderen Städten der Welt die zu Bethlehem versammelten Architekten. »Hochhäuser versetzen mich immer in Klaustrophobie«, erklärte Professor C. Martin Duke aus Los Angeles. Und der Statiker Fred K. Chang verwies auf mögliche Gesundheitsschäden durch die Vibrationen an der Spitze solcher Wohntürme: 60 bis 90 Schwingungen pro Sekunde, wie sie unter bestimmten Umständen zu erwarten seien, könnten Augenschäden, andere Schwingungsfrequenzen eine Beeinträchtigung der Magenmuskulatur verursachen.
Städtebauliche und politische Gesichtspunkte führte der New Yorker Architekt und Hochschullehrer Jonathan Barnett ins Feld. Allzuoft würden Hochhäuser nur als Statussymbol mächtiger Konzerne, nicht aber nach objektiven Bedürfnissen errichtet. Allzuoft stünden sie völlig isoliert, ohne Beziehung zur Baumasse oder zur Landschaft ringsum.
Andererseits seien die Grundrisse im Inneren solcher Mammutgebäude oft zu kleinmütig und eng geplant. »So sei auch zu bedenken, ob nicht doch größere Hochhäuser vorzuziehen seien, ob nicht »zehn World Trade Centers« besser sind als 40 Chase Manhattan Buildings, jedes mit nur 60 Stockwerken« (Barnett).
Doch fast schien es, als seien mit dieser Bemerkung schon wieder die Omnipotenzvorstellungen der Techniker ins Spiel gebracht, die emotionalen Bedürfnisse künftiger Bewohner hingegen wegdiskutiert worden.
Nach ihrem eigenen Wohn- und Lebensstil befragt, gaben die versammelten Hochhaus-Architekten Überraschendes zu Protokoll: Kaum einer von ihnen lebt selbst in einem Wolkenkratzer.
Hochhaus-Vorkämpfer Duilio Sfintesco etwa, neben dessen Büro in Paris gegenwärtig ein 42stöckiger Wohnwürfel emporwächst, wird weiterhin in seinem Einzelhaus im Forst Chantilly wohnen bleiben. Sfintesco: »Wenn ich da nebenan von meinem Büro wohnen würde, dann könnte ich die Nachtigall und den Kuckuck nicht mehr hören.«