FILM Kult des Todes
Mit einer von allen Zweifeln gereinigten Besessenheit verfolgen die Helden in Francois Truffauts Filmen ihre fixen Ideen bis hin zur Selbstaufgabe. Jüngstes Beispiel: der Weiberheld in »Der Mann, der die Frauen liebte«. der mit einer verzweifelten Ausschließlichkeit, als ginge es um sein Leben. den Mädchen hinterher ist. Auch Truffauts neuester Film, »La Chambre verte« (Das grüne Zimmer), handelt von einer amour fou, der Liebe zu den Toten.
Daß die Verstorbenen nicht tot sind, sondern in unseren Erinnerungen, unseren Gefühlen für sie weiterleben, daß es, wie Andre Gide in seinem Tagebuch notierte, kein Überleben außer im Gedächtnis der Menschen gehe, ist die Zentralidee dieses Films, den »L'Express« als Truffauts bislang ehrgeizigsten bezeichnete. Der Regisseur: »Im Gegensatz zu dem, was gesellschaftliche und religiöse Gewohnheiten uns glauben machen, geschieht es, daß man zu gewissen Toten ebenso intensive und leidenschaftliche Beziehungen unterhält wie zu Lebenden.«
Nach zwei Kurzgeschichten von Henry James erzählt Truffaut die Geschichte eines Mannes. der sein Leben einem einzigen nekrophilen Weiheakt widmet. Julien Davenne. vom Regisseur selbst mit kühler Strenge gespielt. kehrt aus dem Ersten Weltkrieg, in dem die meisten seiner Freunde auf dem »Feld der Ehre« geblieben sind, in seine kleine Heimatstadt im Osten Frankreichs zurück. Auch dort setzt ihm der Tod zu: Kaum verheiratet, wird Davenne Witwer. Der Schmerz über den Verlust seiner jungen Frau treibt ihn in einen ungeheuren Wahn, den er mit penibler Konsequenz verfolgt.
Davenne richtet im ersten Stock seines Hauses ein grün tapeziertes Zimmer mit der Hinterlassenschaft seiner Frau ein und führt dort manchmal nächtelang Phantomdialoge mit der Verstorbenen. Sein Trotz gegen das Unabänderliche geht so weit, daß er sich bei einem Puppenmacher eine lebensgroße Reproduktion seiner Frau anfertigen läßt. Doch als er erstmals die fertige Gipsfigur mit ihren grauenhaft toten Glasaugen erblickt, befiehlt er entsetzt, sie zu zerstören.
Auch beruflich beschäftigt sich Davenne nur noch mit dem Tod. Als Journalist bei einer kleinen Zeitschrift schreibt er Nachrufe immer in der Absicht, den wahren Tod, das Vergessenwerden, zu besiegen. Das Leben um ihn herum existiert nur noch in verkrüppelter Form: Der Junge, den er bei sich aufgenommen hat und erzieht, ist taubstumm; die Zeitschrift, für die er arbeitet, wird bald eingehen, denn ihre Abonnenten sterben weg.
Als Davenne eines Tages in einem Antiquitätengeschäft ein junges Mädchen, Céilia (Nathalie Baye), kennenlernt, kreist auch diese Beziehung wieder um den Tod. Denn auch Cécilia lebt in der Erinnerung an einen Verstorbenen, ihren Geliebten. Beide finden sich in der gemeinsamen Absicht, ein Denkmal für ihre Erinnerungen zu errichten.
Eine zerstörte Kapelle richten sie zu einer Art Mausoleum ein mit einem Meer von brennenden Kerzen und Photographien erinnerungswürdiger Toter an den Wänden. Truffaut versammelt dort in einem seltsamen Akt von Verehrung seine geliebten Vorbilder. Minutenlang läßt er seine Kamera Bilder von Proust, Oscar Wilde, Henry James, des Komponisten Maurice Jaubert, der erst in den 40er Jahren starb, ja selbst Oskar Werner in einem Szenenphoto aus Truffauts Film »Jules und um« abschwenken.
Doch Davennes fanatischer Totenkult ist nicht frei von der menschlichen Schwäche der Eifersucht. Als sich nämlich herausstellt, daß Cécilias einstiger Geliebter, ein Schriftsteller, ein Jugendfreund Davennes war, von dem dieser sich verraten fühlte, weigert sich Davenne, ihn in sein Mausoleum aufzunehmen.
Céciiia verläßt ihn daraufhin, und Truffauts Film schlägt nun unvermittelt in ein verzweifeltes Melodram um. Denn Davenne erkrankt an dieser Trennung. Zu spät erkennt er, daß er begonnen hat, die Toten gegen die Lebenden zu lieben. Unfähig, damit weiterzuleben, verwandelt sich sein Totenkult in Todessehnsucht.
In der Schlußszene des Films, die sich gefährlich am Rande der Sentimentalität bewegt, stirbt Davenne in den Armen Céilias, die noch einmal ins Mausoleum zurückgekehrt ist. Trauernd entzündet Cécilia eine Kerze mehr, Davenne wird in ihrer Liebenden Erinnerung weiterleben.
Der Tod ein sinnloser Skandal für die empörten Lebenden -- Truffaut paraphrasiert jenseits aller Religiosität existentialistische Philosophie. Frei von allen gesellschaftlichen Dimensionen prägen diesen äußerst individualistischen Totenkult archaische Züge. Die üblichen Tröstungen der Zivilisation greifen hier nicht. Statt dessen erinnern Davennes trotzige Riten eher an die Totenbräuche von Naturvölkern.
Der mit cartesianischer Strenge inszenierte Film meidet jeden Ansatz zur Psychologisierung. Es gibt keine Rückblenden, die verflossenes Glück, zerrissene Liebe sinnlich begreifbar machen würden. Davennes einziger Antrieb ist die ungelinderte Empörung über die Tatsache des Todes, gegen den er mit einer sich zum Wahn steigernden Besessenheit anrennt.
Die Betroffenheit, die Truffaut offensichtlich auslösen möchte, hält sich jedoch in Grenzen. So mutig Truffaut das Tabu des Todes angreift, so distanziert verfolgt man doch diesen Totentanz, dessen Maxime ebenso einleuchtend wie banal ist: Man stirbt erst wirklich im Vergessenwerden.