Berauschend Tanz den Untergang
Der Abend senkt sich über Berlin-Kreuzberg, der Dax ist fast runter auf 4000 Punkte, als sich Johanna und Anna vor den Spiegel setzen, um sich für den Untergang zu schmücken.
Sie haben Kerzen angezündet, Swingmusik aufgelegt, in der Hand halten sie ein Glas Campari. Sie kleben sich falsche Wimpern auf, ziehen Seidenstrümpfe an, dazu Strumpfhalter und Swingtanz-Schuhe, sie legen sich falsche Perlen um den Hals - und mit jedem Kleidungsstück und jedem Accessoire, das sie sich überstreifen, befördern sie sich weiter in die Vergangenheit, in die Jahre kurz vor der großen Depression von 1929. "Das hier ist die Mode zur Krise", sagt Johanna und lacht, "dieses Abrissmäßige passt voll zu unserem Lebensgefühl." Ein Gefühl, das von der Ahnung bestimmt wird, dass "das Leben, so wie wir es kennen, bald vorbei sein kann". Niemand, sagen die beiden, "weiß, was morgen wird".
Johanna ist 24 und Volkswirtschaftsstudentin. Sie und ihre WG-Mitbewohnerin Anna, 26, gehören zu einer wachsenden Gruppe junger Menschen, die an ihren Wochenenden den Lebensstil der zwanziger und dreißiger Jahre zelebrieren. Ihre Kleider suchen sie sich in sogenannten Vintage-Läden in Kreuzberg und Mitte, die Perlen in türkischen Ramschgeschäften am Kottbusser Damm, die Abendtäschchen aus Goldlamé stammen von Flohmärkten oder von Ebay. Oder sie schneidern die Kleider gleich selbst. Es gehe nicht darum, teure Originale zu tragen. Hauptsache, man wirke glamourös, lasziv. "Wer nichts hat, muss Blender sein", sagt Johanna und kramt in einer Tasche voller falscher Perlen, falschen Federn, falschem Glitzer. Die beiden erheben das Prekäre zum Lebensstil und die Not zu einer modischen Tugend: "Depression Chic" ist das Gebot der Stunde.
Mode und gesellschaftlicher Wandel beeinflussen sich gegenseitig - das hat lange Tradition. Als am 24. Oktober 1929 die Börsenkurse an der Wall Street stürzten, in der Folge Banker mit Pappschildern auf den Straßen ihre Arbeitskraft anboten und Frauen und Kinder sich als billige Tagelöhner verdingten, da reagierte die New Yorker High Society mit dem Gegenteil von Bescheidenheit: Sie takelte sich auf, tanzte.
Die Society-Lady Elsa Maxwell veranstaltete ihre legendären Partys, die "bals masqués", im Hotel Waldorf Astoria. Es gab literweise Champagner, opulente Abendgarderobe, Kaviar - und die Partys waren extravaganter und besser besucht denn je. Auch in Berlin wurde damals vorerst hemmungslos weitergefeiert, während draußen die Welt aus den Fugen geriet - eine Kultur des Darüber-hinweg-Tanzens, nach der Devise: "Jetzt erst recht".
Am 15. September 2008 krachte es auf dem globalen Finanzmarkt. Nur eine Woche später präsentierte die Designerin Alberta Ferretti in Mailand ihre Kollektion für diesen Frühling, glamouröse Kleider mit Fransen, Glitzer, Stickereien. Sie brachte damit, als hätte sie es geahnt, den "Depression Chic" auf den Laufsteg.
Auch Jil Sander hüllte für dieses Frühjahr Models in Fransenroben à la Twenties; bei Burberry Prorsum liefen sie in verblichenen Sackkleidern - tiefe Taille, knielanger Schnitt. Roberto Cavalli zeigte elegante Flapper-Girls in transparenten schwarzen Kleidchen. Aquilano und Rimondi, Vera Wang - alle zelebrierten in ihren Entwürfen den Glamour der Zwanziger.
Sie trafen damit jenen Zeitgeist, den junge Berlinerinnen wie Johanna und Anna verkörpern. Die beiden wollen an diesem Abend, nach historischem Vorbild, die Krise befeiern: Auf der "Bohème Sauvage", einer Zwanziger-Jahre-Party im legendären Wintergarten-Varieté, wird der Depressionsschick zelebriert. Dort treffen sich die Nostalgie-Fans, die so tun, als lebten sie im Jahr 1929, mit aufwendigen Abendroben, Absinth, Roulette und Erotik-Show. Bis dahin muss Johanna noch ihre Haut hell pudern, ihre Zigarettenspitze finden, die Strumpfhalter festknipsen und sich mit Absinth in die richtige Stimmung bringen. "Ist doch klar, dass die Menschen Modeströmungen aus der Krisenzeit symphatisch finden", sagt sie, während ihre Mitbewohnerin Anna ihr glitzernde Strasssteinchen auf den nackten Rücken klebt: "Zu wissen, dass nach so einer Krise die Welt nicht implodiert, dass es weitergeht - daran knüpfen wir modisch an."
Johanna ist ein vornehmes, blasses Mädchen; wenn sie raucht, hält sie die Zigarette wie eine feine Dame; kein Wort, das sie sagt, scheint unüberlegt. "Ich bin nach Berlin gekommen, weil man hier gut leben kann, studieren, feiern." Aber in Wirklichkeit seien die Job-Chancen schlecht, die Zukunftsperspektiven rar. "Wir schaffen uns Sachen an, die nicht von Dauer sind, wohnen in Wohnungen, die nicht saniert sind, wir sparen nicht - und jetzt die Krise." Sie sagt: "Dieses Leben ist schön, aber instabil, irgendwie ohne Ziel und Verstand."
"Ey, check das mal aus", sagt Anna und dreht sich, um Johanna ihr Outfit zu präsentieren: Strümpfe mit Naht, ein schwarzes Abendkleid, Handschuhe, Ketten. Die Mädchen fotografieren sich gegenseitig mit dem iPhone. Eine SMS nach der anderen piept, die Berliner Boheme ist bereit für den Abend: "Gibt es noch Karten?", "Stehst du auf der Gästeliste?" Die zwanziger Jahre, erzählt Johanna, werden immer beliebter. Sie hat auf der Internet-Plattform StudiVZ eine Gruppe gegründet: "La Bohème sauvage - Lebensstil und Leidenschaft!" In kürzester Zeit hatte sie über 300 Mitglieder.
Sehnsucht, Weltflucht, Eleganz
Vor zwei Jahren sei sie noch Gruftie gewesen, sagt Johanna und nippt an ihrem Campari-Glas, "aber das hatte sich irgendwann erledigt, zu düster, zu viele Piercings". Ihre Begeisterung für den Chic der zwanziger Jahre, erzählt sie, begann mit einer Einladung zu einem privaten Salon. Dort saßen die Leute in einer typischen Berliner Altbauwohnung auf Stilmöbeln, die Männer mit Smoking und Fliege, die Frauen im Flapper-Kostüm. Sie siezten sich, nannten sich Fräulein Liebstahl und Herr von Soundso. Sogar die Zeitungen, die herumlagen, waren aus den Zwanzigern, auch die Musik. "Das alles hat mich total geflasht", sagt sie, "ein Abend in einer anderen Zeit. Irgendwie einer schöneren Zeit."
Johanna sitzt jetzt an ihrem alten Wohnzimmertisch, mittlerweile ein Vamp in Samtrobe, mit Bubikopf und Kirschkussmund, und stellt drei Gläser nebeneinander, legt ein silbernes Absinthbesteck darüber, je einen Zuckerwürfel obendrauf. Aus einem Harmonium, mit Licht und rotem Samt zur Bar umfunktioniert, zieht sie eine Flasche grünen Absinth, das Getränk der alten und neuen Boheme. Die Kerzen flackern, aus den Boxen sickert Swingmusik. Sie zündet die Zuckerwürfel an, es knistert. "Bon", sagt das Mädchen, "es ist angerichtet." Sie trinken, rauchen Kette, ergeben sich der Nostalgie.
Bent Angelo Jensen, Designer des Labels "Herr von Eden", erklärt die Faszination junger Menschen für alte Kleidung so: "Kleidungsstücke sind Zeitzeugen. Sie liegen vor dir und erzählen dir aus einer anderen Welt." Ende der Neunziger begann Jensen seine Modekarriere mit einem Vintage-Geschäft, verlieh und verkaufte alte Anzüge, Gamaschen, Manschettenknöpfe. Er sagt, bei einem alten Kleidungsstück stelle er sich vor, was derjenige, der es trug, im Berlin der Goldenen Zwanziger wohl erlebt haben mag - und ein bisschen von diesem Lebensgefühl übertrage sich auf einen selbst. Heute sind seine Schnitte modern, das Label "Herr von Eden" gilt als Avantgarde. Und doch, sein Hang zu vergangenem Chic scheint geblieben: Die Haare trägt er zurückgegelt wie in den zwanziger und dreißiger Jahren, die Oberlippe ziert ein kleiner Bart. "Ich habe ein Problem mit Gleichförmigkeit in der Mode", sagt er, auch Nostalgie sei eine Form der Individualisierung.
An seinen Kunden beobachte er eine unmittelbare Reaktion auf die Krise, sagt Jensen: Die Nachfrage nach Anzügen, auch nach extravaganteren Schnitten und Farben, sei in den letzten Monaten gestiegen. Jensen schaut an sich herunter, zählt auf: "Hier, diese Krawatte in Fuchsia, dazu das fliederfarbene Hemd, diese auffälligen Manschettenknöpfe." Seit es diese Untergangsatmosphäre gebe, wähle auch er selbst viel mutigere Kleider, um der Stimmung entgegenzuwirken, der Tristesse. "Je schlechter die Zeiten", sagt er, "desto wichtiger die Mode."
"Wir wollen Sie heute schön einstimmen auf die Wirtschaftskrise", sagt der Conférencier auf der "Bohème Sauvage"-Party in sein Mikrofon und tippt sich auf den Zylinder, es ist inzwischen Mitternacht. Er sagt: "Wir wollen tun, was die Leute in den zwanziger Jahren taten - wir wollen tanzen!" Johanna und Anna stehen auf der Galerie des Wintergarten-Varietés und schauen hinunter auf die Tanzfläche. Es ist ein skurriles Bild, das sich ihnen bietet: Junge Menschen tanzen zur Musik ihrer Großeltern, in den Kleidern ihrer Großeltern - und wirken dabei nicht verkleidet, sondern modern. Das "Rezessions-Orchester" spielt, den DJ nennen sie hier Schallplattenunterhalter, an den Wänden hängen Kinoplakate des Films "Metropolis" und der Diva Asta Nielsen.
Johanna hat eine damenhafte Miene aufgesetzt. Anna trägt ein Stirnband mit einer dicken schwarzen Rose. Die beiden umklammern mit Satin-Handschuh-Fingern ihre Absinthgläser, die Halsketten baumeln ihnen bis zum Bauch. "Das ist es", sagt Johanna, "dieses Abtauchen, für einen Abend ein echtes Fräulein sein." Sehnsucht, Weltflucht, Eleganz.
Mädchen mit Zylinder und Stock streifen an ihnen vorbei. Männer mit weißem Smoking, Fliege, Einstecktuch verbeugen sich. Andere, im Zeitungsjungen-Outfit, mit Hosenträgern und Ballonmütze, treffen sich am Black-Jack-Tisch: Ein bisschen sieht es aus, als wären die Models von Alberta Ferretti, von Cavalli und Burberry direkt von den internationalen Laufstegen ins Wintergarten-Varieté spaziert.
Die "Bohème Sauvage"-Partys sind mittlerweile fast immer ausverkauft. Auch in London, Paris, Athen feiern immer mehr junge Menschen Zwanziger-Jahre-Partys.
Um drei Uhr morgens steht Johanna, ihren Freund am Arm, über den Roulette-Tisch gebeugt. Der Rauch hängt in der Luft wie ein schwerer Bühnenvorhang, Swingorchester, Gläsergeklirr, Stimmengewirr. Draußen hat es angefangen zu schneien. Und das Jahr 2009 mit seiner Krise und seinen Hiobsbotschaften scheint hier, zwischen all diesen glamourösen Menschen, so weit weg, als läge es genau 80 Jahre in der Zukunft.