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Kunst als Schauprozeß

Ein Kampfbegriff der Black-Power-Bewegung aus den sechziger Jahren macht erneut Karriere: »political correctness«. Die politisch Korrekten, eine Sprach- und Denkpolizei radikaler Minderheiten, kontrollieren nicht nur Vorlesungsverzeichnisse oder Feuilletons - sie beherrschen jetzt eine New Yorker Museumsschau.
Von Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 15/1993

Nan Goldin steht vor ihrer Fotowand im New Yorker Whitney Museum und kommentiert. »Die Bilder zeigen Grenzüberschreitungen von einem Geschlecht zum anderen, sie zeigen Menschen, die durchs Feuer gegangen sind.«

In das Make-up ihrer Augenwinkel graben sich tiefe Krähenfüße des Grams. » Leben ist Sex«, sagt sie, »und Sex ist Politik, und Politik ist das Leben.« Und es klingt so endgültig wie eine Grabrede.

Sie spricht noch lange so, ohne Punkt und Komma, in Plakatworten, die wie bittere Anklagen klingen, »Differenz« und »Identität« und »Andersartigkeit«, und mit allem sagt sie nur eines: Ich stelle mich dem Elend der Welt - aber du Museumsbesucher-Depp, du Upper-Westside-Bourgeois, du Kritiker-Kretin, lebst in deiner biederen Lebensnische, bist weiß und ein Mann und noch nicht mal schwul und damit als dumpfer Reaktionär ausgewiesen.

Nan Goldins Bilder zeigen »die Menschen, mit denen ich lebe«, und andere, die inzwischen gestorben sind. Sie zeigen ihre Freundin in der Küche und auf dem Klo, sie zeigen Aids-Kranke zu Hause und im Klinikbett, und sie zeigen sie selber, träumerisch aus dem Abteilfenster eines Zuges blickend.

Da ihre Fotos in einem der wichtigsten Museen der Gegenwartskunst hängen, sind sie nicht einfach nur Fotos, sondern Botschaften. Sie rufen: Seht her! Aids! Tut etwas ** Bis 13. Juni. Katalog 288 Sei- _(ten; 30 Dollar. * Vor ihren Werken im ) _(Whitney Museum. ) für die Kranken! Schluß mit der Verteufelung der Homosexualität! Liebe ist Politik ist Liebe ist Politik! Wie merkwürdig ihre stillen, schönen Bilder von diesen Subtexten und Kommentaren beschädigt werden.

Daß der Künstler - wie ungefähr auch immer - »politisch« ist, genau das ist der letzte Schrei, der neueste Gag auf dem Kunstmarkt, den das New Yorker Whitney Museum of American Art in seiner Biennale 1993 spiegelt**. Es ist eine Wiedergutmachungs-Show am Ende des Gier-Jahrzehnts: die Kunst des sozialen Gewissens, ein tastender Vorgriff des geänderten Händlergeschmacks auf die Ästhetik der anbrechenden Clinton-Ära.

»Ich bin seit 23 Jahren politisch«, sagt Nan Goldin hastig, um allen Einwänden zuvorzukommen. »Ich hänge mich nicht an irgendwelche Trends an.« Doch der Trend, das ist nicht zu übersehen, meint es gut mit ihr.

Vorbei das Jahrzehnt der Kunstkunst, der lauten bunten Leinwände, der ichversessenen Wunderkinder und neoprimitiven Superstars, die es nur mit sich selbst und dem Markt zu tun hatten und damit rechnen konnten, daß eine hohe Börsennotierung zum ästhetischen Mehrwert beitrug.

Jetzt produziert der Künstler Kommentare zur Zeit - ohne den Umweg über die Kunst. Er richtet sich an eine neue Klientel, die gelernt hat, jede Äußerung - und erst recht jede Kunstäußerung - auf das abzutasten, was sie »political correctness« nennt: politische Korrektheit.

Es ist diese Klientel, die die Werbeleute der Champagner-Marke »Salon« mit einer wundervoll bösen Anzeige im New Yorker ins Visier nahmen. »Die achtziger Jahre sind vorbei; eine Ära der Gier, des Exzesses und der rücksichtslosen Geldverschwendung ist zu Ende.« Und kleingedruckt darunter, wie geflüstert: »Um darauf anzustoßen - dürfen wir eine Flasche Champagner zu 150 Dollar empfehlen?«

Allerdings: Lust, Witz und Ironie sind den politisch Korrekten ohnehin fremd. Im Whitney Museum an der Madison Avenue, dem Trendsetter-Tempel, ist eine Sammlung von verbiesterten Rechthabern und larmoyanten Dilettant/ Innen zu besichtigen, ein Sammelsurium von feministischen und ethnozentrischen Bekenntnissen hochgesponserter Akademiker - und gleichzeitig der Ausverkauf des politischen Bewußtseins als Masche.

Die politisch korrekte Show im Whitney Museum rennt mit Kriegsgeheul offene Türen ein: Politisch korrekt ist es, gegen Neonazis zu sein, gegen die Unterdrückung der Frauen und der Schwarzen und der Indianer und der Schwulen. Und da wahrscheinlich nur wenige Museumsbesucher für die Wiedereinführung der Sklaverei und Schleierpflicht sind, hat die Unternehmung den Schockwert einer Butterfahrt. Und daneben den unangenehmen Geruch der Gesinnungsstreberei.

Politische Korrektheit ist zur Neusprechfloskel geworden, die in Wahrheit Inkorrektheit bedeutet, eine Liturgie der inhumanen Denk- und Kampfschablonen, des linken Konformitätsdrucks und letztlich der Zensur. Gegenwärtig scheint sie die Antwort der westlichen Intelligenz auf die atavistische Aufsplitterung der östlichen Gesellschaften zu sein. Sie richtet sich gegen den Konsens. Sie liebt das Kampfgeschrei.

Politische Korrektheit schlägt Kapital aus dem schlechten Gewissen des Establishments, und es hat Grund dazu, denn die Verfehlungen lauern überall. Die Studentenvertretung des Smith College hat eine Liste verschiedener Formen von Unterdrückung veröffentlicht - für Leute, die sonst zu spät »merken, daß sie unterdrückt werden«.

Einer der Verstöße wird unter dem Stichwort »Könnerismus« notiert. Es bezeichnet als Fehlverhalten gegenüber Behinderten die »Herrschaft derjenigen, die etwas können, über diejenigen, die es gerade nicht können«. Der Jubel über die Goldmedaille im 400-Meter-Lauf wird damit zum Element einer raffinierten Herrschaftsstrategie. Ebenso inkorrekt wie etwa das Bedürfnis nach einem Rendezvous mit einer hübschen Frau, einem gutaussehenden Mann. Hier heißt die Sünde »Äußerlichkeitismus«, die Benachteiligung weniger gutaussehender Menschen.

Ganz oben auf der Liste der Verfehlungen: »Heterosexismus: Unterdrückung von schwulen und lesbischen Orientierungen, oder auch deren Verschweigung«. Nach den Regeln der politischen Korrektheit wird damit jeder, dem die Offensiven schwuler Selbstdarstellung auf die Nerven gehen, zum reaktionären Heterosexisten. Als ein eigener schwuler Block im traditionellen irischen »St. Patrick''s Day«-Umzug in New York von den Organisatoren untersagt wurde, blieb Bürgermeister David Dinkins dem Umzug - aus Gründen der politischen Korrektheit - fern.

»Sicher«, sagt Nan Goldin, »es gibt viele mittelmäßige Sachen hier, gerade auch von Künstlerinnen.« Sie legt eine Pause ein, wie um zu überlegen. Aber dann kommt doch nur das Erwartete: »Ich finde es gut, daß Frauen zurückschlagen. Diese weibliche Wut . . . das ist politisch ungemein wichtig.«

Sie steht mit dem Rücken zu einer Installation von Ida Applebroog und stolpert fast über eine auf den Boden montierte Tafel, die ein gefesseltes Baby zeigt. Dahinter eine andere, auf der eine Gouvernante mit Axt zu sehen ist. »Marginalia« heißt das Stück, und der Rätselcharakter dieses Kunstwerks ist erschöpfend entschlüsselt im Aufruf: Du sollst dein Kind nicht verprügeln!

Nan Goldin sagt, nicht ohne genießerisches Lächeln: »Warten Sie, bis Sie den dritten Stock sehen - dagegen sind diese Sachen hier Glückwunschkarten aus dem Kaufhaus.« Tatsächlich: Der dritte Stock bietet »feministische Wut«. Cindy Sherman, die früher märchenhaft mit Film-Mythen der fünfziger Jahre gespielt hat, zeigt nun weibliche Genitalien aus Sex-Shops und Klinikprothesen, eine Art haßerfüllter surrealer Pornographie. Ach ja, die Frau ist entwürdigt, und die Zeiten sind hart!

Sue Williams legt eine Frauenfigur in die Ecke, die nackt ist und befleckt von Fußabdrücken, und in einem Bekenntnis-Schreiben spricht sie von der ehelichen Gewalt, die sie erdulden mußte, und daß ihre Skulptur ein Symbol dafür sei. Daß Kunst manchmal Therapie ist, aber Therapie noch lange keine Kunst, gehört in dieser Show zu vernachlässigten Gewißheiten: Neben fast jedem der Werke hängen Tafeln mit den Credos der Künstler, Tafeln, die zeigen, wie wenig sie ihren Werken trauen.

Nur wenige Stücke in diesen vier vollgestopften Museumsetagen verpacken ihre Botschaften zumindest irritierend: etwa »Family-Romance« von Charles Ray mit den auf die Größe der Eltern mutierten Monsterkindern, unschuldig nackt wie Modelle aus dem Biologiebuch und gräßlich, wie Mutationen - nach Nuklearkatastrophen, in Alpträumen - nur sein können.

Da ist die Installation »Die Szene des Verbrechens (wessen Verbrechen?)« von Pepson Osorio - die penible Rekonstruktion _(* Im März in New York. ) eines Mordes und seiner Verwertung durch die News-Shows. Doch auch diese Arbeit wird schnell von der Penetranz politischer Korrektheit eingeholt - durch den Hinweis darauf, man möge sich doch »bitte nicht lustig machen« über den kunstvoll arrangierten Kitsch in der Puertoricaner-Wohnung, der »meist unter vielen Entbehrungen zusammengetragen worden ist«. Gerade der übertriebene Kitsch trägt doch nicht unwesentlich zum Unterhaltungswert der Installation bei.

Die Museumswände werden zu großen Klagemauern gesellschaftlichen Unrechts. Auch Ikonen früherer Shows bleiben nicht ausgenommen. In einer Serie von Mapplethorpe-Fotos sind Zitate seiner schwarzen Modelle zu lesen, die über die Ausbeutung ihrer Körper durch den weißen (an Aids verstorbenen) Fotografen reden.

Kaum eine Installation, die mehr verlangt als die Bereitschaft, sich zu empören oder zu büßen. Der Museumsbesucher erhält eine Plakette, die besagt: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich je weiß sein wollte«. In diesem Klima aus liberalem Flagellantismus und »radical chic« wird selbst George Holliday zum Künstler - der Amateur-Videofilmer, der die brutale Mißhandlung Rodney Kings durch vier weiße Polizisten aufgenommen hat, ist im Ausstellungskatalog vertreten. Der Prügelfilm von Los Angeles - eine Video-Performance?

Die Schau im Whitney Museum zeigt politische Korrektheit als einen Diskurs der Fraktionierung. Schwarz gegen weiß, schwul gegen hetero, Frau gegen Mann. Die einst frischen Emanzipationsbewegungen scheinen die Reagan-Bush-Jahre nur in der stalinistischen Verhärtung überlebt zu haben. Nun zelebrieren sie die innergesellschaftliche Balkanisierung, und das schon seit geraumer Zeit.

So bestand der brillante Stückeschreiber August Wilson etwa auf einem schwarzen Regisseur für die Verfilmung seines Stückes »Fences«. Wilson: »Machen wir doch einfach zur Regel, daß Schwarze nicht bei italienischen Filmen Regie führen und Italiener nicht bei jüdischen und Juden nicht bei schwarz-amerikanischen Filmen.« In Zukunft, erwiderte ein empörter Kritiker, dürfe auch Richard III., aus Gründen der politischen Korrektheit, nur noch von Buckligen gespielt werden.

Politische Korrektheit ist die Ideologie der gesellschaftlichen Fragmentierung, und sie profitiert von paranoiden Vorstellungs-Systemen. Rund 60 Prozent der Schwarzen glauben, daß die Regierung Drogen in den Ghettos einsetzt, um die schwarze Bevölkerung zu zerstören. Und 29 Prozent glauben, daß das Aids-Virus von weißen Rassisten erfunden wurde, um Schwarze zu töten.

Die Kampf-Antwort der politisch Korrekten: Aufkündigung der ideellen Zugehörigkeit zur amerikanischen Gesellschaft, moralische Rechtfertigung der Gewalt wie etwa der Plünderungen von Los Angeles. Vor allem aber: romantische Selbstafrikanisierung - einer der verlogensten Mythen der politisch Korrekten.

Im Whitney Museum ist eine großzügige Installation von Fred Wilson. Unter dem Titel »Re: Claiming Egypt« sind Abgüsse ägyptischer Statuen ausgestellt, behängt mit afrikanischen Paraphernalien. Damit beweisen die Afrozentristen sich und ihren Anhängern: Die Wiege der abendländischen Zivilisation ist schwarz.

Die afrozentrischen Anstrengungen kommen jedoch an einem merkwürdigen Paradox nicht vorbei, das der Historiker Pearce Williams so beschreibt: »Schwarze Intellektuelle verdammen die westliche Zivilisation - und versuchen dauernd zu beweisen, daß sie von ihren Vorfahren begründet wurde.«

»Politische Korrektheit«, so der Historiker Arthur Schlesinger, Kennedys liberaler Berater, »droht ein Mittel zur Kontrolle von Curricula und Fakultäten zu werden.« In seinem brillanten Buchessay über die Zersplitterung Amerikas nimmt er sich unter anderem der Afrozentristen an: »Der Westen braucht keine Belehrung über die höheren Tugenden der afrikanischen ,Sonnenmenschen'', die so lange an der Sklaverei festhielten, bis sie der Westen abgeschafft hat . . . Weiße Schuldgefühle können auch überzogen sein*.«

Weniger siegessicher als seine Kollegin Nan Goldin im Whitney Museum wirkt John Ahearn, der an der Jerome Avenue in der South Bronx vage in die Gegend weist und sagt: »Hier haben _(* Arthur Schlesinger: »The Disuniting of ) _(America«. Norton & Company, New York; ) _(160 Seiten; 15,95 Dollar. ) sie gestanden.« Ahearn ist hochaufgeschossen und groß und von stiller, eindringlicher Freundlichkeit. Hier, an der Kreuzung zur 169. Straße, sollten seine Heldenstatuen eigentlich stehen. Doch sie sind vor einigen Wochen abmontiert worden - aus Gründen der politischen Korrektheit. Ahearn hat nicht protestiert.

Sie standen nur fünf Tage, dann kam der Lkw. Heute sind sie auf dem Parkplatz des »PS I«-Museums in Long Island City zwischengelagert: Raymond und sein Pitbull, Daleesha mit den Rollerskates, Corey und sein gewaltiger Ghetto-Blaster. Alle drei sind Nachbarn Ahearns aus der South Bronx, und er hatte sie in Bronze gegossen.

Er war mit den dreien nicht gerade befreundet, aber er kannte sie gut und mochte sie. Er hatte sich die Statuen heroisch gedacht, wie die Heldendenkmäler auf dem Paseo de la Reforma in Mexiko-Stadt - als Überlebende des Alltagskampfes im Ghetto.

Raymond und Corey und Daleesha waren stolz auf die Skulpturen. Sie waren plötzlich Berühmtheiten im Viertel. Doch dann erhielt Ahearn die ersten Anrufe aus dem Rathaus. Schwarze Bürokraten meldeten sich, Komitee-Mitglieder. Und plötzlich waren die Statuen keine Heldendenkmäler mehr, sondern »negative Rollenmodelle«. Ahearn, so sagten sie, habe die Not der Straße glorifiziert, statt für leuchtende Beispiele zu sorgen. Warum, wurde er allen Ernstes gefragt, habe er keine schwarzen College-Abgänger dargestellt? Warum keine Denkmäler für Martin Luther King, Michael Jordan, Bill Cosby?

Der Einwand, daß diese in der Realität der South Bronx schwer zu finden seien und daß es ihm auf die Realität angekommen sei, verfing nicht. Im Rathaus wollte man eine Kunst der positiven Beiträge. Einen Sozialistischen Realismus fürs Ghetto - sozusagen glückliche Bäuerinnen beim Ernteeinsatz auch in der South Bronx!

John Ahearn beugte sich dem Druck. Im Stil der sozialistischen Selbstkritik meint er heute: »Ich hätte weniger über Kunst nachdenken sollen als darüber, was die Leute hier glücklich macht.« Am meisten jedoch litt Modell Raymond unter dem Abriß - sein Pitbull war eingegangen, und Raymond war so stolz darauf, daß der Hund zumindest als Kunstwerk fortleben sollte.

Ins Whitney Museum nach Manhattan würde sich Raymond kaum je verirren und die Besucher des Museums kaum in die South Bronx. Vielleicht hätte Raymond an den goldbepinselten Basketball-Schuhen von Gary Simmons seine Freude. Und wenn man ihm erklären würde, daß sie einige zigtausend Dollar wert seien und von schwarzem Selbstbewußtsein handelten und von ihm, Raymond, würde er sein Pokerface aufsetzen und ernst nicken. Und er würde sich später totlachen über die Begeisterung, mit der der weiße, liberale Mittelstand büßt im Fegefeuer der politischen Korrektheit und deren Chiffren zu enträtseln versteht.

Wie verstörend aber für diese Klientel, was sich seit einigen Wochen im »Orpheum«-Theater im East Village Manhattans abspielt: eine Monstertragödie zur politischen Korrektheit, seit Monaten ausverkauft: »Oleanna«. In diesem bitterbösen Theaterthriller führt David Mamet vor, wie der Jargon der politischen Korrektheit zur nahezu tödlichen Waffe werden kann.

In »Oleanna« ist Carol zunächst eine blasse, nicht sehr auffassungsfähige Literaturstudentin, die sich an ihren Professor wendet, da sie droht durchzufallen. Der hat gerade den Sprung auf eine gutdotierte Stelle geschafft - er muß nur noch von einem letzten Gremium bestätigt werden. Reine Formsache - das Haus ist bereits angezahlt, seine Frau sucht schon die Tapeten aus. Der Professor ist in Weltmeisterlaune.

Er spricht Carol Mut zu. Er möchte ihr die Angst vor der Prüfung nehmen. Er reißt Witze über den Lehrbetrieb. Er legt kameradschaftlich seinen Arm um sie. Er macht ihr ein Kompliment. Mit all dem schaufelt er sich sein Grab.

Denn bald stellt sich heraus: Weniger unter ihrem eigenen Unwissen leidet Carol als an der Brillanz des Professors. Sie ist schlicht gelb vor Neid auf ein so auffällig demonstriertes Lebensglück, so nah und doch so unerreichbar. Sie denunziert den Professor bei dem Gremium der Universität mit dem Ziel, diese Selbstbehaglichkeit zu brechen.

Unterstützung erfährt sie durch eine nicht näher spezifizierte Gruppe, die ihr die Sicherheit eines heiligen Kampfes gibt - eines eingeschränkt feministischen Weltbildes und eines bürokratischen Jargons.

Das Drama spielt sich vorwiegend auf der Ebene der semiotischen Dekodierung ab. Die gönnerhafte Hilfsbereitschaft des Professors wird zum »sexistischen Machtspiel« und sein Angebot, Nachhilfe zu erteilen, zur »Diktatur des männlichen weißen Kulturkanons«. Als er die Studentin schließlich wütend am Arm ergreift, wird daraus ein »Vergewaltigungsversuch«.

Carol erlebt ihre Macht, und es ist, im letzten Akt, die verschanzte Macht eines Schauprozeß-Terrors. Der Professor soll abschwören. Er soll Selbstkritik üben: Nur wenn er einer Liste halbseidener feministischer Kampfliteratur zustimmt, die die Gruppe vorlegt, eine Literatur-Liste, auf der sein eigenes Standardwerk fehlt, ist Carol bereit, die Anklage zurückzuziehen.

Das Publikum erlebt die mörderische Konsequenz Carols aus der Sicht ihres Opfers. So haarsträubend ist Carols Feminismus, daß allabendlich nach der Vorstellung Trauben von Besuchern vor dem Theater stehen und diskutieren - und oft ähneln sich die Debatten. Er macht seiner Wut über die »Carols dieser Welt« Luft, sie kritisiert »einen absurden Schmarren«. Er sagt: »Das ist der feministische Faschismus.« Sie sagt: »Das war doch nur die misogyne Tirade eines Mannes, dem die Felle davonschwimmen. So was gibt''s doch in Wirklichkeit gar nicht.«

Jede Haltung ist möglich nach diesem Abend - sogar die politisch korrekte. Sie blieb dem Kritiker der New York Times vorbehalten. Er schrieb von einer Frau, die »den Schlußstrich zieht und sich wehrt und gewinnt«. Na bitte!

** Bis 13. Juni. Katalog 288 Seiten; 30 Dollar. * Vor ihren Werkenim Whitney Museum.* Im März in New York.* Arthur Schlesinger: »The Disuniting of America«. Norton & Company,New York; 160 Seiten; 15,95 Dollar.

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