ZAHNMEDIZIN Kunst am Kiefer
Die Angst der Patienten vor der klappernden Prothese ist den Ärzten vertraut. »Immer eine Schweinerei«, »glitschiger Otto« nennt sie der Garmischer Zahnarzt Di. Guido Riess -- und er weiß Besseres.
Nach zwölf Jahren des Nachdenkens und Erprobens hat Riess in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Battelle-Institut einen einpflanzbaren Zahnersatz entwickelt, der mit dem Kiefer verwächst -- als Eckpfeiler für Brücken oder ganze Zahnreihen. Riess: »Die Implantate sitzen, als ob's die eigenen Zähne wären.«
In vielen Zahnarztpraxen ist während der letzten Jahre mit dem Einpflanzen von Drittzähnen laboriert worden -- aber meist mit zweifelhaftem Erfolg. Aus Porzellan oder Glaskohle, aus Gold oder Platin versuchten die Implanteure, Ersatz zu schaffen. Doch um die Implantate herum bildete sich nur mehr oder minder straffes Bindegewebe, und oft genügte schon eine kleine Infektion, um den mühsam eingepflanzten Lückenbüßer wieder zu lockern.
Eine dauerhafte, weniger anfällige Knochenverbindung gehen hingegen die Riess-Zähne ein. Seit dem Frühjahr 1977, als das neue Material erstmals am Menschen erprobt wurde, hat der Garmischer Zahnarzt in 120 Fällen die Kunstzähne mit Erfolg eingepflanzt.
Voraussetzung für diese Erfolge war der neue Werkstoff, den das Battelle-Institut -- gefördert vom Bonner Forschungsministerium -- entwickelt hat und der nun in der kritischen Zone zwischen Kunstzahn und Körper wirksam wird: eine »bioreaktive« Keramikmischung mit Kalziumphosphat. Sie dient als »biochemische Maskierung«, mit der das Implantat die Abwehrkräfte des Körpers überlistet.
Mit Knochenfräse oder -bohrer senkt Riess zunächst für das Implantat einen Schlitz oder eine zylindrige Höhlung in den Kiefer. Dann treibt der Zahnarzt das Implantat -- also die künstliche neue Zahnwurzel -- mit einigen Schlägen in die Öffnung und näht die darüberliegende Schleimhaut wieder zu. Ein Plastikfilm verschließt die Wunde gegen Bakterien.
Im Kern besteht das Implantat aus korrosionsbeständigem Titan -- je nach der Form des Kiefers -- in Sattel-, Röhren- oder Blattform. Ähnlich wie Schmirgelpapier ist der Titankern mit winzigen Kügelchen aus Kalziumphosphat beschichtet. Dieses Kalziumphosphat (das auch im natürlichen Knochen vorkommt) sorgt dafür, daß der Kunstzahn mit dem Kiefer eine innige Verbindung eingeht: Die rauhe Oberfläche wird teilweise vom umgebenden Knochengewebe resorbiert, teils sprießt neues Knochengewebe an das Implantat heran. Auf diese Weise verwachsen Kunstzahn und Kiefer ohne trennendes Bindegewebe -- daher die bessere Verankerung.
Was so einheilt, ist zunächst nur der Unterbau des neuen Zahngefüges. Erst nach drei bis vier Monaten wird das darüberliegende Zahnfleisch wieder aufgestanzt und das Gewinde in der Kunst-Wurzel freigelegt. Erst jetzt wird der neue »Zahnstumpf« aus Kunststoff aufgeschraubt, der Brücke oder Krone trägt. Einstweilen schlägt Riess die Zahneinpflanzung vor, wenn große Distanzen zu überbrücken sind oder der Patient mit der Prothese nicht zurechtkommt.
An 200 Schäferhunden und Schweinen hatten Riess und das Battelle-Team das neuartige Pflanzmaterial erprobt, ehe er damit in seine Praxis ging. Doch auch beim Operations-Verfahren mußte er noch »Schritt für Schritt Fehler ausmerzen
So entwickelte Riess eigens stark gekühlte Schneidinstrumente, weil herkömmliche Fräsen die poröse Innenmasse des Kieferknochens »verschmierten«; nur wenn das Zellgefüge offen bleibt, kann sich neue Knochenmasse bilden. Bewährt hat sich auch das Zwei-Stufen-Verfahren -- da beim ersten Schritt nur die Wurzel eingepflanzt wird, kann diese ohne Infektionsgefahr und mechanische Belastung »in Ruhe« einheilen.
Wie der natürliche Menschenzahn besitzt auch das Plastikmaterial des aufgeschraubten Zahnstumpfes eine gewisse Elastizität. Bei einer Kontrolluntersuchung, ein Jahr nach der Implantation, wird der Stumpf an bestimmten Sollbruchstellen auf Rißbildung überprüft. Erst dann wird die Überkronung endgültig festzementiert.
Ein umsichtiges Vorgehen vermißt Riess bei vielen Kollegen, die sich mit der Einpflanzung von Drittzähnen befassen. Das »Big Business«, so Riess, habe da oft den Vorrang. Die Implantologie sei »ein Sauladen« geworden: Falsche Pflanz-Technik und ungeeignetes Material machen oft schnelle Anfangserfolge zunichte -- der Zahn schwimmt bald nur noch im schwieligen Bindegewebe. Manchmal, auch wenn der Kunstzahn jahrelang festsitzt, frißt sich die korrodierende Metallwurzel wie ein rostendes Regenrohr in das umliegende Gewebe -- der Patient kommt mit rasenden Schmerzen wieder auf den Stuhl.
Die vielversprechende Kombination von Titan und Kalziumphosphat hingegen weckte mittlerweile auch bei Hochschulmedizinern Interesse. So werden die neuartigen Implantate an der Uniklinik Göttingen und bei rund einem Dutzend niedergelassener Zahnärzte erprobt.
Auch zum Auffüllen von Wurzellöchern, Kiefernzysten und von Zahnfleischtaschen (bei Parodontose) hat Riess. den Battelle-Werkstoff schon verwendet, vorläufig noch experimentell. Für die Weiterverbreitung seines Verfahrens zur Einpflanzung von Drittzähnen will Riess einführen, was es in der westdeutschen Zahnmedizin am wenigsten gibt: Qualitätskontrolle.
Eine inzwischen gegründete »Dentalimplantate GmbH« soll den interessierten Zahnärzten die einstweilen noch knappen Ersatzzähne zuteilen und Kontrollberichte einfordern. Nur wenn sich der Kreis der beteiligten Kollegen überschaubar halten läßt, könne dem Patienten, meint Riess, gute Arbeit garantiert werden.
* Beim Eintreiben der künstlichen Zahnwurzel.