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MILENA La Bohémienne

aus DER SPIEGEL 14/1964

Sie nannte sich »Milena aus Prag«.

als sie 1940 im mecklenburgischen Konzentrationslager Ravensbrück zum erstenmal ihrer Leidensgenossin Margarete Buber-Neumann begegnete, und »der Name Milena«, entsinnt sich die Ex-Kommunistin und Ehefrau des Kommunistenführers Heinz Neumann, »erfüllte mich ganz, ich schwelgte in seinem Wohlklang«. Mehr noch: Margarete Buber fühlte sich fasziniert von dieser Tschechin, von dem »Geheimnisvollen ihres Wesens, das ihrer ganzen Körperlichkeit eigen war« und das selbst die SS-Männer, Aufseherinnen und Lagerärzte von Ravensbrück beeindruckt haben soll.

Die Adressatin der berühmten Kafka »Briefe an Milena«, als die sie in die Literaturgeschichte eingegangen ist, war damals, 45jährig, fast am Ende ihres Lebens: Vier Jahre lang teilte sie mit der politischen Autorin Buber-Neumann ("Als Gefangene bei Stalin und Hitler") das gleiche KZ-Schicksal, dann starb sie nach einer Nierenoperation an Entkräftung.

Zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod hat jetzt Margarete Buber-Neumann eine erste Biographie über »Kafkas Freundin Milena« verfaßt, deren »durchdringender Blick« nicht nur den Prager Dichter moderner Alpträume zu bannen vermochte*.

Denn Milena Jesenská, befreundet mit der vielgeliebten Alma Mahler -Werfel und von Willy Haas nicht minder verehrt als von Willi Schlamm, versuchte im Prag und im Wien der ersten Vorkriegszeit und der zwanziger Jahre zu leben, feie es ihr Vorname - er bedeutet »die Liebende« und »Geliebte« - verhieß.

Schon als Dreizehnjährige bevorzugte die frühreife Tochter des begehrten Kieferchirurgen und Lebemanns Jan Jesensky die Maler-Ateliers und literarischen Kaffeehäuser Prags. Mit fünfzehn wurde sie, umgeben von einem abenteuerlichen Air der Verderbtheit, zum Jungmädchen-Idol der Moldau -Stadt. Ein Zeitgenosse erinnerte sich ihrer »geradezu sensationellen Erscheinung": »In langen wehenden Gewändern à la (Isadora) Duncan, mit gelöstem Haar, Blumen im Arm, war sie, trotz beinahe pathetischen Ignorierens der Umgebung, von erregender, elementarer, lebensvoller Schönheit.«

Jan Jesensky ertrug die exzentrische Lebensart seiner Tochter - die mittlerweile ihr Medizinstudium aufgegeben hatte - so lange, bis sie sich in einen Literaten und notorischen Kaffeehäusler namens Ernst Polak verliebte. Dann ließ der Vater sie in eine Nervenheilanstalt einsperren. Als jedoch sogar die Krankenschwestern des Sanatoriums ihrem Reiz erlagen und die Neigung zu Polak tatkräftig förderten, brach Jesensky den drakonischen Erziehungsversuch ab. Milena sagte sich von Vater Jan los, heiratete ihren Literaten und zog im Revolutionsjahr 1918 mit ihm nach Wien.

Ihrer Biographin zufolge erlebte Milena nun allerdings »tiefste Tiefen«. Weil es die »neuen Wege der Liebe« so verlangten, ließ sie sich von ihrem Ehemann widerspruchslos betrügen und suchte Trost beim Kokain. Um Polak zu ernähren, schleppte sie Koffer auf dem Wiener Hauptbahnhof, sie gab Sprachunterricht - einer ihrer Schüler war der »Schlafwandler«-Romancier Hermann Broch -, verfaßte unter Polaks Gelächter ihre ersten Zeitungsartikel und wurde für ihren Mann gar zur Hehlerin.

Einstimmig rühmten die Stammtischbrüder des Wiener Cafés »Herrenhof«, von Franz Blei bis Franz Werfel, Milenas Freundschaft und Treue. Willy Haas freilich, dem sie einst für eine »erste Liebesnacht« ein blumengeschmücktes Zimmer besorgt hatte, erkannte: »In die erotische und intellektuelle Promiskuität eines Wiener Literatenkaffeehauses in den wilden Jahren nach 1918 paßte sie schlecht hinein und litt darunter.«

Zu diesen Leiden kamen neue hinzu, als die unglückliche Frau Polak 1920 den Schriftsteller Franz Kafka kennenlernte. In Meran, wo Kafka zur Kur war, hatte sie sich ihm als seine erste tschechische Übersetzerin vorgestellt und ihm danach so lange mit Briefen und Telegrammen zugesetzt, bis er sie in Wien besuchte.

Doch Kafka, so erläutert Margarete Buber-Neumann, »ein Schwerkranker, litt unter der lebensstarken Milena, die seine ganze, auch die körperliche Liebe forderte, vor der er zurückschreckte«.

Es kam zu einem weiteren Zusammentreffen im tschechisch-österreichischen Grenzort Gmünd, dann ging das platonische Liebesverhältnis in eine lang währende Briefliebe über, der schließlich Kafka ein Ende setzte. Er forderte von ihr: »Nicht schreiben und verhindern, daß wir zusammenkommen, nur diese Bitte erfülle mir im stillen, sie allein kann mir irgendein Weiterleben ermöglichen, alles andere zerstört weiter.«

Milena erfüllte die Bitte und überließ sich ihrem Kummer. »Ich möchte meine Schläfen ins Gehirn hineindrükken ... Ich bin an den Grenzen des Wahnsinns«, schrieb sie in dieser Zeit an Kafkas Freund Max Brod. Und sie klagte: »In mir ist eine unbezwingbare Sehnsucht, ja eine rasende Sehnsucht, nach einem ganz anderen Leben, als ich es führe und als ich es wohl je führen werde, nach einem Leben mit einem Kinde, nach einem Leben, das der Erde sehr nahe wäre.«

Ein anderes Leben begann immerhin: Milena, nach ihren eigenen Worten ein »Bündel von Gefühlen«, trennte sich von Polak und liierte sich fürs erste mit dem kommunistischen Grafen Schaffgotsch. Als sie 1925 nach Prag zurückkehrte, wurde der Wiener Zeitungskorrespondentin laut Buber-Neumann ein »fast triumphaler Empfang« zuteil. Sie war dreißig Jahre alt, »voll erblüht in Schönheit«, und »als die bekannte Modereferentin von den besten Schneiderinnen umworben und elegant gekleidet«. Die »tiefsten Tiefen« schienen endgültig hinter ihr zu liegen.

1927 heiratete Milena den Prager Architekten und Bauhaus-Jünger Jaromir Krejcar. In ihrer Wohnung im Bauhaus-Stil versammelten sich fortan die Literaten und Bohemiens der böhmischen Metropole - wenigstens so lange, bis sich ihr auch noch die Sehnsucht nach dem »Leben mit einem Kinde« erfüllte.

Als sie nach der Geburt ihrer Tochter Honza und nach einjährigem schmerzensreichen Krankenlager wieder aufstand, war aus ihr eine dicke, hinkende und morphiumsüchtige Matrone geworden. Ihr Ehemann, erzählte sie später, habe ihr einmal einen Revolver auf den Nachttisch gelegt. Das Leben der erfolgreichen Journalistin Milena war nun gar nicht mehr apart.

Dankbar bezog sie die Wohnung, die ihr Krejcar, der von einem zweijährigen Aufenthalt in der Sowjet-Union mit einer neuen Ehefrau zurückkehrte, einrichtete. Sie trat der Kommunistischen Partei bei und wurde einige Jahre später wieder abtrünnig, nachdem sie von den Moskauer Schauprozessen erfahren hatte.

Den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei beantwortete sie mit pathetisch-patriotischen Artikeln, und ihre blumenumrankte Wohnung - die »hängenden Gärten Milenas« - wurde zum Widerstandsnest, in dem sie anfangs Flüchtlinge vor den Deutschen versteckt hielt. Aus Solidarität mit den Juden nähte sie sich dann den gelben Davidsstern auf ihre Kleider.

Im Herbst 1939 wurde Milena verhaftet. Sie lernte die Gefängnisse von Prag, Beneschau und Dresden kennen und gelangte schließlich in das neu errichtete Frauenkonzentrationslager von Ravensbrück. Für ihre Mitgefangenen wurde sie »Mutter Milena«, die »Zarewa«, und Margarete Buber-Neumann erinnert sich: »1940 war sie noch ungebrochen, mutig und voller Initiative, und so fern jeder Häftlingsmentalität . . . Milena wurde nie ein 'Häftling', sie konnte nicht abstumpfen und brutal werden, wie so viele andere.«

Sie starb im Mai 1944, zwanzig Jahre nach Kafka. Willy Haas charakterisierte sie: »Milena war wie geboren für Unwetterkatastrophen. Je unruhiger die Umgebung war, desto ruhiger, ausgeglichener, größer wirkte sie.« Und in einem Brief an Max Brod rühmte Kafka seine Freundin Milena: »Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe.«

* Margarete Buber-Neumann: »Kafkas Freundin Milena«. Gotthold Müller verlag, München; 316 Seiten; 17,80 Mark.

Kafka-Freundin Milena Jesenská

Vom Ehemann einen Revolver

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