LADY AVAS ELEGANTE HAND
Alfred Andersch, 52, Mitbegründer der »Gruppe 47«, ehemals Nachtprogramm-Chef in Frankfurt, Hamburg und Stuttgart und Zeitschriftenherausgeber ("Der Ruf«, Texte und Zeichen"), schrieb Romane ("Sansibar oder der letzte Grund«, »Die Rote"), Erzählungen, Berichte und Essays ("Die Kirschen der Freiheit") und Hörspiele. In diesem Herbst veröffentlicht er literarische Reiseskizzen: »Aus einem römischen Winter« (Walter-Verlag). - Alain Robbe-Grillet, 44, ist der Haupt-Autor des »nouveau roman«, der modernen französischen Roman-Richtung, die seit über zehn Jahren die zeitgenössische Literatur In vielen Ländern beeinflußt. Seine Romane (unter anderem: »Der Augenzeuge«, »Die Jalousie ...«, »Die Niederlage von Reichenfels") wurden in 61 Sprachen übersetzt.
Anzuzeigen ist die Verbindung des nouveau roman mit der pop art, hergestellt im neuesten Roman des 44 jährigen französischen Schriftstellers und Filmregisseurs Alain Robbe-Grillet: »Die blaue Villa in Hongkong«.
Die Theorie des nouveau roman, in einer Reihe imponierend konsequenter Essays von Robbe-Grillet entworfen (deutsch 1965 bei Hanser: »Argumente für einen neuen Roman"), fordert, das epische Werk des 20. Jahrhunderts habe sich zu lösen von Held, Geschichte, Tiefe, Engagement, Humanismus, Metapher und Tragik. Es ist nahezu unbegreiflich, daß ihr Urheber sich neuerdings gegen den Vorwurf wehrt er habe Gesetze für den neuen Roman erlassen und nach ihnen seine eigenen Romane geschrieben. Er hat sie erlassen, und er hat die Prinzipien Seiner Theorie auf das strengste In seinen Romanen angewandt. Sie enthalten Infolgedessen keine Helden, keine Geschichten, keine Tiefe, kein Engagement, keinen Humanismus, keine Metaphern und keine Tragik.
An ihre Stelle tritt die Kunst der Beschreibung von Dingen, einer Dingwelt, die nicht mehr interpretiert, sondern nur noch gezeigt wird, aber auf das kunstvollste, in ihren wechselnden Konstellationen. Eine solche Ding-Konstellation kann manchmal eine Beziehung zwischen Menschen verraten, wie in dem Roman »Die Jalousie oder die Eifersucht«, doch spielen die Menschen für die Dinge nur eine untergeordnete Rolle, die Robbe-Grillet en passant notiert, um nachzuweisen, daß »die Welt weder sinnvoll ist noch absurd. Ganz einfach: sie ist«.
Die Hinnahme des Inventars der Welt als eines -Bestandes reiner Oberflächen-Phänomene - der Begriff der Oberfläche spielt in der Philosophie Robbe -Grillets eine entscheidende Rolle - führt ganz natürlich zu einer filmischen Technik der Beschreibung. So lesen sich alle Romane 'Robbe-Grillets wie eine Folge von Kamera-Einstellungen.
Gerade die filmische Realisation seiner Ideen - er betrat die Filmwelt zuerst in Verbindung mit Alain Resnais ("Letztes Jahr in Marienbad"), seinen zweiten Film ("Die Unsterbliche") inszenierte er selbst - scheint ihm gezeigt zu haben, daß die Welt der Gegenstände nicht so rein existiert, wie er bisher angenommen hatte, sondern von mächtigen, von Menschen erschaffenen Mythen durchwirkt wird.
Sicherlich ist auch der Einfluß der »Mythen des Alltags« (deutsche Ausgabe bei Suhrkamp, 1964) seines Freundes Roland Barthes, des maßgebenden Literaturtheoretikers und Gesellschaftskritikers der jungen französischen Linken, nicht ohne Wirkung auf Robbe-Grillet geblieben. So jedenfalls erklärt es sich, daß er in einem Interview zu seinem neuen Roman auf »Strömungen wie pop art« oder »jene seltsame Leidenschaft für comic strips« und auf James-Bond-Filme ausdrücklich Bezug nimmt: »Es gibt tatsächlich Objekte dieser Art im Gehirn des modernen Menschen. Unsere Träume bauen sich auf jenen Klischee-Vorstellungen auf, von denen es in der Presse, im Fernsehen, in der Werbung nur so wimmelt.«
Robbe-Grillet bleibt aber seiner Methode insofern treu, als er den Komplex dieser Massen-Mythologeme konsequent als Objekt behandelt. Das sprachliche Modell aus Spionage-, Exotik- und Erotik-Klischees, das er zum Gegenstand seines neuen Romans gemacht hat, bleibt tatsächlich Modell, Objekt und Gegenstand, so, wie in seinen früheren Büchern der Steinrand eines Hafenkais oder die Beziehung zwischen einem Tisch und zwei Stühlen.
Die Technik ist stupend. In einem Spiegelkabinett von bezaubernder Raffinesse werden die Bewegungen von Figuren immer neu gegeneinander verschoben, so daß sie in immer verwirrenderen und überraschenderen Einstellungen erscheinen. Und da es sich zwar nicht um Menschen handelt, doch immerhin um Figuren, Puppen, Marionetten, nicht mehr bloß um Dinge, wie in den früheren Büchern, und da das Ganze eine erotische Phantasie darstellt, ist »Die- blaue Villa in Hongkong« einfach interessanter, leichter lesbar, hübscher als ein so sprödes Buch wie »Der Augenzeuge«, das man ja auch, wenn man will, empörend langweilig finden kann.
Leider jedoch verfehlt Robbe-Grillet sein Ziel, obwohl er sich, genau wie die führenden Pop-Artisten und Happening -Veranstalter, des Wörter- und Bilder -Materials der kapitalistischen Konsum -Zivilisation bedient.
Die Grundstruktur des Textes besteht aus Wörtern wie »die nackten Brüst einer Wachspuppe«, »ein Theaterplakat«, »die Reklame für Strumpfhalter oder für ein Parfum«, »langbeinige geschmeidige Frauen in ihren hautengen Etuis aus schwarzer Seide«, »Männer in creme- und elfenbeinfarbenen Spencern«, »graugrün gefleckte Fallschirmjägeruniformen«, »Pistolen in Hüfthöhe«, »eurasische Dienerin« usw. Die Sätze bilden ununterbrochen reine Comic-strip-Situationen: »Der hautenge, bis zum Schenkel geschlitzte Rock der Schönen von Hongkong zerreißt blitzschnell unter einer gewalttätigen Hand, die plötzlich eine pralle, feste, glatte, glänzende. Hüfte freilegt und die weiche Rundung des Hinterteils.« »Lady Ava bietet die elegante und vollendete Hand einem der Geschäftsleute, der sich mit zeremoniellen Gesten von ihr verabschiedet.« »Sehr langsam streift sie mit einer geschmeidigen und graziösen Hand die schwarze Seide von ihrer Hüfte und schiebt sie völlig zur Seite, zweifellos, damit ihr Geliebter seine Entscheidung in voller Kenntnis des Angebotes treffen und, unter anderem, den Wert der Spuren, die noch immer auf ihrem Körper sichtbar sind, einkalkulieren kann.«
Solche Bilder, bewußt an den Kitsch herangeführt, entspringen der gleichen Absicht wie Jean-Claude Forests »Barbarella«-Strip oder die gräßliche »Phoebe Zeit-Geist«-Serie der New Yorker »Evergreen-Review«, in der die heute übliche Reizwirkung sexueller Waren-Fetische bis zur Raserei persifliert wird. Eben solche Persiflage aber gelingt Robbe-Grillet nicht. Von Raserei ist er weit entfernt.
Statt dessen hat er sich in seine zunächst rein artifiziell hergestellte Klischee-Welt widerstandslos verliebt: Wie es sich für einen europäischen Künstler und Formspieler von hohen Graden gehört, wird ihm das Hongkong seines Traum-Kitsches, je länger er sich damit beschäftigt, eben doch zum künstlichen Paradies. Das Arrangement von Raum-Spiegelungen und Zeit-Brechungen, in immer neuen Variationen durch ein Dutzend Motivreihen geführt, spielt am Ende ganz frei, absichtslos, phantastisch durch dieses Buch. Die Möglichkeiten des Todes von Edouard Manneret, die Beziehung zwischen Sir Ralph und der blonden Lauren werden ihrem Dichter weit wichtiger als das, was vielleicht seine ursprüngliche Absicht war: die Enthüllung einer Ideologie.
Darin unterscheidet sieh »Die blaue Villa in Hongkong«, obwohl sie doch mit
Pop-Material arbeitet, von Roy Lichtensteins höhnischen Raster-Vergrößerungen amerikanischer Idole oder von Robert Rauschenbergs wütend durchgeriebenen Zeitungsfetzen. Robbe-Grillet haßt nicht, höhnt nicht, ist nicht wütend. Ganz offensichtlich ist er von seinem Hongkong entzückt.
Es dient ihm, wie gesagt, als erotische Phantasie. Aber obwohl diese vom Sadismus tingiert ist - Lederpeitschen, Mauerringe, Ketten, junge Chinesinnen, denen von Hunden oder Tigern die Kleider vom Leib gerissen werden, tauchen als ständig wiederholte Motive auf -, wird sie niemals bis in die Abgründe de Sades geführt. Alles bleibt hübsch, klein, maßvoll. Deshalb entgleist sie, wo sie die Sphäre der gepflegten perversen Andeutung verläßt: » ... die kleine Japanerin ... Ihr ausgebeuteter Leichnam, der nur eine winzige Wunde am Halsansatz, direkt über dem Schlüsselbein, aufwies, wurde verkauft, um mit verschiedenen Soßen in einem angesehenen Restaurant in Aberdeen serviert zu werden. Die chinesische Küche hat den Vorteil, die Stücke unkenntlich zu machen.« So wird das, auch das noch, hingeplaudert. Man denkt mit Trauer an Poes »Arthur Gordon Pym«, gar nicht zu reden von gewissen Momenten in den Auschwitz- und Treblinka-Prozessen.
Darf man vermuten, daß sich hier die Methode an ihrem Werk rächt? Daß es keine Helden und keine Geschichten mehr geben soll, könnte man zur Not ja noch einsehen, und auf die Metaphern hatte schließlich schon Hemingway verzichtet. Wie aber, wenn auch noch Tiefe, Engagement, Humanismus und Tragik fehlen? Begibt sich eine Literatur, die nur noch beschreibt, vielleicht doch ihrer kritischen Möglichkeit? Mag sein, daß die Welt weder sinnvoll ist noch absurd. Aber einfach festzustellen, daß sie da ist - mon dieu, das gibt auch nicht viel her! Es gibt doch höchstens ein paar statische Bücher her, und gelegentlich ein entzückendes kleines bijou von einem Buch, wenn auch ohne kritische Kraft.
Immerhin - dergleichen liest sich angenehm. Es ist auch nicht bloß Mode. Es ist europäische pop art als Schmuckstück in einem Schaufenster der Place Vendôme.
Andersch
Alain
Robbe-Grillet: »Die blaue Villa in Hongkong« Carl Hanser Verlag München 192 Seiten 15,80 Mark
Romancier Robbe-Grillet*
Nouveau plus pop
* Mit Ehefrau Catherine auf der Frankfurter Buchmesse 1966.