ANTHROPOLOGIE Lallen zum Tode
Schön war er nicht, wenn auch stark und tapfer. Der gedrungene Kerl mit affenartigen Augenwülsten und schnauzenförmigem Gesicht gilt allgemein als Urbild des Jägers, der mit einer nur grob behauenen Steinknolle Mammuts ansprang.
Dabei war er bereits ein Spättyp, gleichsam der vorletzte Ast am menschlichen Stammbaum. Sein Gehirn übertraf mitunter gar das lebender Menschen an Größe und Gewicht. Er bevölkerte die gesamte Alte Welt. Als Werkzeug hatte er aus dem Faustkeil scharfe Flintschlegel und Speerspitzen entwickelt. Und auch ein Seelenleben ist ihm nicht abzusprechen -- Blütenstaub in einem Grab erweist, daß er seine Toten auf Blumen bettete.
Dennoch blieb der Neandertaler, der rund 4000 Generationen lang die Erde beherrschte, ohne Erbe. Gegen Ende der jüngsten großen Vergletscherung, vor spätestens 35 000 Jahren in der Würm-Eiszeit, wurde er vom Ahn der modernen Eurasier, dem Cro-Magnon-Menschen, verdrängt.
Zwar konnten sich die Neandertaler noch der harten Eiszeit-Umwelt anpassen. Die Cro-Magnons aber, erläuterte etwa der Sowjet-Anthropologe Wsewolod P. Jakimow, versuchten bereits, »in kollektiver Zusammenarbeit die Umweltbedingungen umzugestalten«.
Diesen ersten Vertretern der Gattung Homo vom Typus »sapiens« müssen die grobschlächtigen Vettern als so abstoßend erschienen sein, daß noch der mächtigste Sympathie-Trieb, der Sex, erschlaffte. Zumindest in Europa haben Cro-Magnons und Neandertaler offenbar keine gemeinsamen Kinder gezeugt. Dem Körperbau nach zu urteilen, haben die Neandertaler nichts von ihren genetischen Eigentümlichkeiten weitergegeben.
Weshalb aber der bis dahin erfolgreiche Neandertaler in auffallend kurzer Zeit ausstarb oder ausgerottet wurde, ist unter den Anthropologen bisher umstritten. Nun zeigen ein Sprachforscher und ein Anatom auf, wie groß die Kluft zu der überlebenden Menschenart tatsächlich war: Die Neandertaler, so eruierten Philip Lieberman von der Brown University in Providence (Rhode Island) und Edmund Crelin von der Yale University in New Haven (Connecticut), vermochten sich kaum
untereinander und schon gar nicht mit den Cro-Magnon-Menschen zu verständigen.
Ihre sprachbildenden Atemwege ähnelten, wie die US-Forscher aus Rekonstruktionen schließen, mehr denen von Schimpansen oder Neugeborenen als denen neuzeitlicher Erwachsener. Der Kehlkopf saß dicht unter der Mundhöhle; deshalb waren sie zu eingängiger und schneller Artikulation unfähig.
Von einem vorurteilslosen Tester ließen Lieberman und Crelin diese Hypothese noch absichern. Sie prüften mit einem Computer, welche Laute ein primitiver Sprechapparat wie der von Neandertalern hervorbringen kann -- die wichtigsten Vokale, »a«, »i« und »u«, fehlten dabei.
Die schmalschädeligen Cro-Magnons bildeten bald eine Sprache aus und damit die Grundlage für überlegene Sozialgefüge; die kulturelle Revolution der ausgehenden Altsteinzeit mit Höhlenmalereien und hochentwickelten Waffen ist ein überzeugendes Indiz dafür.
Die kurzhalsigen Dickschädel der Neandertaler-Horden dagegen, so folgern die Forscher, gerieten im Kampf ums Dasein in eine Sackgasse: Ober ein animalisches Grunzen, Kreischen und Lallen kamen sie nicht hinaus.