Der Zustand des Patienten, sagt Dr. Wheeler mit gefrorenem Lächeln, sei »stabil«. Allerdings beteilige er sich kaum an den Gruppengesprächen. Er sei ein »Beobachter«.
Wenn Miss Wheeler, die Psychiaterin der Abteilung G, spricht, sind ihre Mundwinkel wie zugenäht. Die Diagnosefetzen zischen durch die Zähne wie Projektile. »Seine bipolare Konstitution wird mit Trilofan medikamentiert.«
Doch dann stockt ihr Mündungsfeuer. Ob sie die Bücher des Patienten gelesen habe? »Nein«, sagt sie überrascht. Ob ihr rassistische Tiraden aufgefallen seien? »Auch das nicht.« Manchmal allerdings, wenn er »dekompensiert«, sei er »sehr pornographisch«.
Von den Patienten der Seniorenabteilung hat Miss Wheeler ein Plakat geschenkt bekommen, das an ihrer Tür klebt. Es zeigt einen dösenden Eisbären auf einer Scholle, der mit blauer Wasserfarbe übermalt ist - ein melancholisch-blauer Bär im blauen Schnee. _(* Links: in der Öffentlichen Bibliothek ) _(von Cincinnati. )
Neben der Medikamentenausgabe hängt eine Wechseltafel, mit Angaben zu Ort, Jahr, Monat, Tag. »Jahreszeit: Sommer«, steht da, und »Wetter: sonnig«. In der morgendlichen Patientenrunde werden diese Eckdaten verlesen - Koordinaten für die unruhigen Wanderungen in den Sümpfen der Amnesie.
Fünf Alte sitzen in der Dämmerlobby und starren auf den Fernseher, auf dem eine morgendliche Quizshow läuft. Aufgeschreckt durch die fremden Besucher, nimmt eine Schwarze Haltung an und singt die Nationalhymne. Miss Wheeler entriegelt die Tür zum Garten. Dort, vor einem Beet mit Schwertlilien, sitzt der Patient und raucht.
Robert Lowrys grauer Haarschopf leuchtet. Seine Finger sind braun vom Nikotin, die Nägel zu lang. Die Augen sind ruhig, grau. »Sie sehen gut aus, Bob«, sagt Miss Wheeler. »Ich bin stolz auf Sie.« »Das ist das erste Mal, daß ich so was von Ihnen höre«, erwidert Lowry spöttisch, »was soll ich denn davon halten, Miss Wheeler?«
Doch Miss Wheeler hat recht. Patient Lowry, der Alptraum aus Cincinnatis Skid Row, ein von Wahnschüben zerrütteter Trinker, ist wieder hochgepäppelt worden. Er nimmt seine Medikamente nun regelmäßig. Er ißt, dreimal am Tag.
Er träume nicht mehr, sagt er. Doch tagsüber, wenn er rauchend auf seinem Stuhl sitzt, begegnet er den Gesichtern und Schimären der Vergangenheit.
Da war die Party mit Tristan Tzara und Norman Mailer in den vierziger Jahren in Paris; Henry Miller, dessen Manuskript er abgelehnt hat, weil es »langweiliges Zeug« war; die Briefe, die ihm Ezra Pound schrieb, mit »blauem Farbband und eingraviertem Profil«; Hemingway natürlich, der ihn das »größte aller Talente« nannte. Bis heute weiß Lowry allerdings nicht, warum er Carson McCullers in die Wange gebissen hat. »In beide Wangen. Sie saß nur da und hielt still.«
Vor einem halben Jahrhundert, da war Robert Lowry ein literarisches Wunderkind, ein großes Versprechen. Über seinen 1946 erschienenen GI-Roman »Casualty« jubelte die New York Times: »Ein kleines Buch, aber eine große Geschichte.« Und die Western Review: »Lowry hat dem amerikanischen Roman die Moral zurückgegeben.«
Aus Gründen der Moral wurde Lowry 1959 zum Aussätzigen. Mit einem Roman, dessen Held ein Antisemit ist. Man werde ihn »aushungern«, habe ihm sein Lektor bei Doubleday gesagt. Lowry, ein abgelegter Fall - der umjubelte Poet hatte plötzlich einen Klumpfuß. _(* In seiner Zelle im »P.W. Lewi''s ) _(Center« in Cincinnati. )
Ein Poet mit einst glänzender Zukunft. In den knapp 15 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg stieß Lowry mit triumphierender Leichtigkeit ein Dutzend Romane hervor und Erzählungen, von denen mehrere verfilmt wurden, eine mit Sophia Loren.
Sein Boxerroman »Violent Wedding«, inspiriert durch den Weltmeisterschaftskampf zwischen Sugar Ray Robinson und Jake LaMotta, darf ein makelloses Meisterwerk genannt werden. Seine Bücher wurden ins Italienische, ins Französische übersetzt - merkwürdigerweise nie ins Deutsche.
Lowry schrieb für die großen Magazine des Landes. Dazu gab er eine Unzahl von selbstverlegten Büchlein heraus, Sammlerstücke, für die heute Hunderte von Dollars bezahlt werden. Für Nicky Drumbolis, einen kanadischen Antiquar, ist der in der Irrenanstalt dämmernde Autor der »letzte Gigant«. Sein Zimmer teilt Lowry mit einem blinden Schwarzen, der aufrecht auf seinem Stuhl sitzt und einem Transistorradio lauscht. Auf die kahle Wand sind vier Möwen gemalt, die einen Leuchtturm umfliegen. Die Möwe, die ihm am nächsten ist, hat wegen eines Fehlers im Putz einen gebrochenen Flügel.
Lowrys Leben, ein langer Flug in die Kunst, und in den Wahnsinn. Würde er die gleiche Reise noch einmal antreten? »Sicher«, sagt Lowry. »Man wird Schriftsteller, weil man keine andere Wahl hat.«
Eine Alternative wäre Präsident der Vereinigten Staaten. Jeder kann Präsident werden, hatte ihm die Lehrerin gesagt, als er fünf Jahre alt war. Und dann hatte sie ihn geküßt. »Der Kuß war sehr real«, sagt Lowry, »aber das mit dem Präsidenten kam mir unglaublich vor.«
Allerdings: Wer will schon die Welt beherrschen, wenn er sie statt dessen neu erfinden kann? Mit diesem Rausch, das wurde ihm bereits vor 70 Jahren auf dem Dachboden des Elternhauses klar, kann kein anderer konkurrieren. Dort oben drosch er zum erstenmal auf eine gebrauchte Royal-Standard-Schreibmaschine ein, im Licht der Luken, das auf ausrangierte Hüte, vergessene Briefe und Kartenspiele fiel, ein Prinz, umgeben von Schätzen und hoch über der Welt, die Cincinnati-Linwood hieß.
Das Holzhaus steht noch. An diesem Tag, spät in seinem Leben, läßt sich Lowry gern auf einen Ausflug in die Kindheit ein. Vor allem, weil ihm Chris, die rothaarige Farmerstochter und Krankenschwester, als Aufpasserin mitgegeben wird. Er ist verliebt in Chris. Er findet, sie sehe aus wie Ingrid Bergman.
Er hat ihr eine Zeitlang obszöne Briefe geschrieben. Sie mochte sie nicht besonders. Jetzt versucht er es mit Gedichten. Auf dem Weg hinaus nach Linwood, am Ohio River entlang, zitiert er Pound: »I walked a path in Kensington Garden/ I saw her standing there/ She was almost afraid that I would speak.«
Cincinnati-Linwood ist eine Kleine-Leute-Gegend, in der die Zeit stillgestanden ist. Da sind Holzhäuschen und Vorgärten, und am Trottoir warten Kinder mit zerknüllten Dollarscheinen auf den Eiswagen, der mit Gebimmel die Straße herunterkommt. Vor acht Jahren ist das Haus der Lowrys verkauft worden, samt Inventar, womöglich auch Manuskripten und Briefen.
»Wir haben das Zeug auf den Müll geworfen«, meint der neue Besitzer, ein freundlicher Mechaniker. Die Linde im Garten, von Lowrys deutschem Großvater als Reminiszenz an Berlins »Unter den Linden« besonders geschätzt, wurde durch einen Swimmingpool-Bottich ersetzt. Der Dachboden, entrümpelt und verputzt, trägt nun mondäne Oberlichter.
Doch die Küche ist dort, wo sie damals war. Hier saß Lowrys Vater, Eisenbahner und Gott, mit den Männern der Nachbarschaft, und Bob schleppte die kantigen Kannen mit dem selbstgebrauten Bier aus dem Keller, sechs auf einmal, auch wenn die Hände bluteten. Er wollte es dem Alten zeigen, der ihn für einen Schwächling hielt.
Der Alte, ein Südstaatler mit simplen Lebensdevisen: »Schlage nie einen Nigger mit der Faust«, hieß eine, »ihre Schädel sind härter als unsere.« Eine andere: »Bezahle einen Juden immer bar.« Noch spät in seinem Leben hört Bob die Stimme des Vaters, »so klar, wie eine Stimme nur sein kann, die aus den Wolken kommt«.
Obwohl ihn der Alte demütigte, mochte Bob diese Dauerparty in der Küche, denn die Männer erzählten, ihre Diamantringe, die sie wie Logenzeichen trugen, blitzten im Schein der Lampe. »Das Leben war verschwommen wie der Traum eines anderen«, sagt Lowry, »nur ich war real.« »Ich kenne das Gefühl«, sagt Chris. »Ich weiß«, sagt er.
Seine erste Geschichte verkauft er mit 10. Mit 15 verlegt er sein erstes Buch. Er schreibt Detektivgeschichten, und dann Alltäglichkeiten - über das »böse« Mädchen Marie, über den Polizisten, der nebenan wohnte, über den Riesen Joe, der behindert war.
Er ist ein brillanter Schüler. Er verschlingt Tolstoi und Thomas Mann und Hemingway. Seine Lieblingsschildkröten nennt er Dostojewski und Guy de Maupassant. Er ist dicklich, ein Opfer für die Gang der Nachbarschaft, doch mit seinen Geschichten, die in Magazinen abgedruckt werden, verschafft er sich Respekt. Er hat ein musikalisches Gespür für Dialoge, und sein Blick ist voller Staunen. Sein Roman »The Big Cage« ist eine sonnenhelle Erinnerung an diese Jugend.
Er schrieb besessen, und ebenso besessen verliebte er sich. Oft genügte ein Blick. Chris lacht, als Lowry von Shirley erzählt, die mit ihm nach Tibet durchbrennen wollte, die Weisheit suchen und die Liebe. Er war 18, und Feuer und Flamme. In Little Rock, Arkansas, war der Trip bereits zu Ende - sie rief ihre Mutter an. »Sie hieß Wheeler«, sagt er, »wie die Ärztin, die hier in der Anstalt über mich zu Gericht sitzt.«
Sein Gesicht ist grau und stumpf. Doch dann huscht ein Schein darüber hinweg. Draußen fährt der Eiswagen vorüber, und Lowry lauscht ihm nach wie einer vertrauten Stimme, als habe das Gebimmel Monster vertrieben. Die Jugend bleibt seine glücklichste Zeit, die große Höhle, die ihn wärmt und zusammenhält.
Er heiratet früh und kommt 1942 als GI nach Italien. Hitler habe einen »Mann von Welt« aus ihm gemacht, schreibt er später in einem Gedicht. »Ich erwarb nur Ruhm als Dichter, weil Hitler einen Krieg begann.« Als er seinem Vater die Eintragung im »Who''s Who« zeigt, meint der nur: »Dafür kann man sich nichts kaufen.«
In den fünfziger Jahren ist Robert Lowrys Leben ein Sturm, der ihn zerreißen wird, ein steter Wechsel aus Liebe und Ablehnung, aus Lorbeerkränzen und dunklen Absteigen. Seine erste Frau verläßt ihn während des Krieges. Seine zweite lernt er im New Yorker East Village in einem Cafe kennen. Nach fünf Minuten macht er ihr einen Heiratsantrag. Zwei Söhne hat er mit ihr. 1952 läßt sie ihn - »ohne einen Grund anzugeben« - in eine Anstalt einweisen.
Lowry, bei dem die Ärzte Schizophrenie diagnostizieren, wird mit Elektroschocks behandelt. »Sie haben meine Gedächtnisbank gelöscht«, sagt er, »sie haben mich um meine Erinnerungen beraubt, wie Hemingway.«
Er wird entlassen, gilt als stabil. Einige Zeit später hört er mitten auf dem Highway eine Stimme. Diesmal ist es nicht sein Vater, der spricht, sondern Gott. Er nennt ihn seinen »eingeborenen Sohn«.
»Natürlich habe ich einen wahnsinnigen Schrecken gekriegt.« Lowry karamboliert einige Autos und wird wieder eingewiesen. Noch einmal hört er die gleiche Stimme. Diesmal sagt sie, daß die Himmelspforte für ihn verschlossen sei. »Insgesamt«, meint Lowry heute, »habe ich mit Gott keine besonders guten Erfahrungen gemacht.«
Lowry wird zum Drehtür-Patienten. Die Verrutschungen seines Lebens lassen die Klarheit seiner Prosa merkwürdig unangetastet. Vielleicht ist da sogar eine gesteigerte Wachheit für Stimmen und Stimmungen, und für einen tiefen, unbegreifbaren Schmerz, einen Abgrund, der in jedem ist. »Gewisse Errungenschaften der Seele und der Erkenntnis«, sagt Thomas Mann in seinem Dostojewski-Essay, »sind nicht möglich ohne die Krankheit, den Wahnsinn, das geistige Verbrechen . . .«
Lowry sitzt im Bronx V. A. Hospital, als »The Violent Wedding« erscheint, dieser magisch-düstere Liebestanz zwischen einem Boxer und einer Künstlerin, der in der Vernichtung endet. Als Patient, der mit Insulin behandelt wird, arbeitet er an dem Erzählband »Happy New Year, Kamerades!« Blut und Zuckerwasser besudeln die Korrekturfahnen der Geschichten, die geschrieben sind wie mit erschreckt aufgerissenen Augen, etwa die Pazifistenparabel »The Defense in University City«, der bizarre Gewaltausbruch »The Victim« oder »Little Baseball World«, eine verschlüsselte Hommage Lowrys an seine ungewöhnliche Schwester, die mit einer verkrüppelten Hand zur Welt kam.
Wer Glück hat, kann das eine oder andere Buch Lowrys noch in Antiquariaten aufstöbern. Die Stadtbücherei Cincinnatis soll eine größere Lowry-Sammlung besitzen. Lowry ist oft hier, wenn er »draußen« ist - die Skid-Row-Hotels, in denen er dann wohnt, sind nicht weit weg. Nach seinen eigenen Büchern hat er nie gefragt. Er interessiert sich für die »Mord«-Abteilung im dritten Stock, wo grellbunte Schmöker stehen mit Titeln wie »Tödliche Gier« oder »Grausamer Verdacht«.
Hier im dritten Stock, hinter einem schmiedeeisernen Gitter, ist die »Abteilung für Raritäten« untergebracht. Sie wird geführt von Alfred Kleine-Kreutzmann, einem Magdeburger, der 1952 in die USA auswanderte und der Bob Lowry mit unverhohlenem Mißtrauen mustert - er kennt ihn als Randalierer.
Im Leseraum sitzt eine Alte mit strähnigen grauen Haaren über einem Telefonbuch von 1945. Sie schaut sich die Eintragungen der Theater an, »um nachzuschauen, was weggemacht worden ist«. Lowry setzt sich neben sie und starrt vor sich hin. Ihm ist unwohl. Über Chris'' Gesicht liegt Andacht, wie in einer Kirche. Wer hätte das gedacht von Bob, dem Irren aus Abteilung G.
Nach einer Weile taucht Alfred Kleine-Kreutzmann mit einem Stapel von Büchern und Heften in Lederschonern auf, Schätze, für Tausende von Dollars angekauft. Da ist das schwarze Heft der ersten »Little Man«-Ausgabe, dem Thomas Mann, der gerade in der Stadt weilte, ein beeindrucktes Geleitwort mitgegeben hat. Da ist »The State of the Nation«, Nummer vier der »Little Man«-Reihe, mit Kurzgeschichten von Lowry, Saroyan und anderen. Da ist der Tigerkopf auf den »New Poems« von 1959, ein roter Linolschnitt auf gelbem Grund. Dann das »Fountain Square«-Magazin von 1965 mit einem Selbstporträt Lowrys, Aquarell und Tusche, zartblau, rot, schwarz.
Mittendrin ein grauer Karton, in dem ein schmales, weißes Bändchen liegt wie in einem Mantel aus Blei: »The Prince of Pride Starring« von 1959 - der Roman, der Lowry, dem Schriftsteller, das Genick gebrochen hat.
Er enthalte »antisemitisches Gift«, habe ihm Kenneth McCormick angewidert gesagt. Der legendäre Doubleday-Lektor, heute 88, hat diese Darstellung nie dementiert. Er kann sich nicht mehr erinnern. In seinem der Library of Congress übergebenen Nachlaß fehlt jeder Hinweis. Fest steht nur, daß der Roman, anders als Lowrys frühere Bücher, nicht bei Doubleday, sondern im Kleinverlag L. H. Haines erschien.
Der Roman erzählt von einer Krise. Jim Ramsey, den die Frau verlassen hat, wird von der Polizei auf dem Highway aufgegriffen, weil er zu schnell gefahren ist. Er wird in eine Irrenanstalt eingeliefert. Er versucht, seine Geistesklarheit zu beweisen, so wie Josef K. seine Schuldlosigkeit in Kafkas »Prozeß«. Es ist ein aussichtsloser Kampf. Über die Gründe seiner Einlieferung erfährt er nur in Andeutungen. Eine einfache Geschwindigkeitsüberschreitung?
Da ist noch etwas anderes - seine »Bemerkungen über Juden«, diese gedankenlosen Ausfälle, von denen Ramseys Frau den Ärzten irritiert berichtet. Doch niemand ist davon überraschter als Jim selber. »Bin ich ein Nazi?« fragt er sich erschrocken.
Der Roman beginnt mit einem Traum, der Jim überschwemmt wie eine groteske, obszöne Welle. Er träumt von Hitler, der nackt vor ihm steht. Am Tag drauf ertappt er sich dabei, wie er ein Hakenkreuz auf ein Blatt Papier malt.
Das Protokoll eines Wahns aus der Sicht des Befallenen, als solches hätte der Roman gelingen können. Doch er biegt ab und weicht seinem Ziel aus, als ob ihm die Kraft fehlte für die Erkundung durch die antisemitischen Labyrinthe. Vielleicht auch hat Selbstzensur ein mutiges Unternehmen getötet.
Achtmal hat Lowry, auf Verlangen des Lektors, seinen Roman umgeschrieben. Die Frakturen im Text sind nicht zu übersehen. So läßt sich heute nur vermuten, wie die Abwehrschlacht des Common sense gegen die Dämonen von Fassung zu Fassung größere Erfolge erzielte. Nur noch an den dunklen Rändern läßt sich erahnen, mit welchem Material dort umgegangen wurde.
Lowrys Blick flackert. Er schaut auf die Bücherhalde, die vor ihm liegt, wie auf einen Verkehrsunfall. Er wendet sich ab. Sein Unterkiefer schiebt sich vor und zurück. Es arbeitet in ihm. Er verschränkt die Arme. Er will nichts damit zu tun haben. Das Schreiben, so heißt es in einem seiner Gedichte, habe ihn »verrückt« gemacht.
Doch dann, zögernd, greift er nach vorne und zieht ein Heft an sich. Es ist »The State of the Nation«. Das, von allem, würde er sich kaufen, wenn er das Geld dazu hätte. Er blättert es durch. Er hält die Illustration gegen das Licht. Er fährt mit der Hand über den Einband, wie ein Tischler über ein frisch gehobeltes Stuhlbein. Er nickt zufrieden.
Draußen, vor dem Brunnen mit den Bronzebüchern, über die in einem ewigen Kreislauf das Wasser hinabfällt, findet er seine Sprache wieder. »Hitler hatte unrecht«, sagt er. »Er hat behauptet, das gesprochene Wort sei mächtiger als das geschriebene. Aber Bücher überleben alles.«
Am nächsten Morgen ist Lowry außer sich. Schwester Glenda hat ihm mitgeteilt, daß seine Verlegung bevorstehe. Schon lange sucht das Krankenhaus nach einem Gruppenwohnheim für Lowry, abgelegen und weit weg von der nächsten Kneipe. »Da gibt es nichts als Maisfelder da draußen«, murmelt er. »Mais ist nicht sehr inspirierend.«
Nervös läuft er auf und ab. »Ich habe nichts verbrochen«, stößt er hervor, »ich bekenne mich nicht schuldig, in allen Punkten.« Er ist 75 Jahre alt. Er haßt Veränderungen. Nun gibt es, schon wieder, eine Verschwörung gegen ihn. »Bestraft, ohne Angabe von Gründen! Ich habe niemanden umgebracht!«
Schließlich gelingt es Chris, ihn zu beruhigen. Sie behandelt ihn an diesem Morgen scheuer, respektvoller. Am Vortag hatte sie sich in der Bibliothek »The Violent Wedding« ausgeliehen. Lowry ist nicht länger ein Fall. Er ist ein Künstler, den sie achtet.
Sie hilft ihm ins Auto. Sie gibt ihm von seinen Zigaretten, wann immer er will - sonst kontingentiert sie sie streng. Lowry genießt ihren Respekt. Er hält sich weltmännisch, verwegen. Er erzählt von Paris, von New York, von seinen Büchern wie von verlorenen Schlachten. Und ab und zu schaut er sie an, wie Bogart die Bergman in »Casablanca«.
Nach »The Prince of Pride Starring« war es still um ihn geworden. Drei Jahre später erscheint »Party of Dreamers«, das neben frühen, konventionellen Geschichten surreale Phantasien und makabre Humoresken enthält, die an Burroughs »Naked Lunch« erinnern.
Noch einmal taucht der Faschismus als Erzählmaterial auf. In »The Nazi Midgets« schäumt Hitler gegen die jüdische Weltverschwörung: »16 Stunden lang, ohne Pause«. So was schreibt kein Nazi, sondern einer, der sich über Nazis lustig macht. Eine Groteske, die von Woody Allen stammen könnte.
Doch die Ablehnung von Doubleday und die plötzlich eingetretene Isolation scheinen bei ihm die Lust an der politischen Obszönität entfacht zu haben. Seine wirren Zustände dauern an. Er trinkt. Seine dritte Ehefrau verläßt ihn. Irgendwann stiehlt er den Pensionsscheck seiner Mutter und kündigt in Rundschreiben die Neugründung der amerikanischen Nazi-Partei an. Er taucht ab in die Obskurität. Er lebt von einer Vielzahl von Jobs, und immer öfter in Anstalten. In den siebziger und achtziger Jahren beginnt er, auf Druck eines Kleinverlegers, wieder zu schreiben. Gedichte wie »Mike and Me": _____« Michelangelo said »I have learned how to be poor« » _____« when an admirer asked him at the end of his life what he » _____« had learned as a great artist. »
Er lebt in Absteigen wie dem »Dennison« oder dem »Fort Washington«, wo die Monatsmiete 160 Dollar kostet. In seinem Dramolett »My Four Lost Wives« versammelt er dort noch einmal die Ehefrauen seines Lebens. Er macht ihnen den Prozeß, und dann springt er aus dem Fenster. Er bestraft sie, indem er sich vernichtet - eine Kinderphantasie am Ende eines Lebens.
In der »Bay Horse Bar« gleich neben dem Hotel ist Cincinnatis Armee der verwehten Trinker bereits am Vormittag vollzählig versammelt. Lange Mäntel, Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern, abgestandenes Bier in großen Gläsern. Eigentlich hat Lowry hier Lokalverbot. Er hatte dem Barkeeper ein Stück auf den Leib geschrieben, das er »XXXXX« nannte und das in erster Linie Körperöffnungen behandelt.
Aus der Musikbox dröhnt George Jones'' Country-Hit »The Bottle Let Me Down«. In seinen frischen Anstaltskleidern wirkt Lowry wie ein König unter Bettlern. Hier, an der Außenecke des Tresens, war sein Hauptquartier. Und nachmittags ging er mit den anderen hinüber ins Drop-Inn, und stellte sich für die Gratissuppe an.
Das ist seine Familie geworden über die Jahre. Von seinen drei Söhnen meldet _(* Mit Schwester Ruth und Sohn Beirne. ) sich nur Jack ab und zu bei ihm. Er spielt in einer Rock''n''Roll-Band, die »Strike« heißt. »Ist offenbar ''n großer Erfolg«, sagt Lowry. »Er schickt immer Farbfotos, von seinem neuen Haus, seinem neuen Auto, seiner neuen Freundin. Alles neu.« Ob der Sohn seine Bücher kennt? »Er hat nie was erwähnt.«
Bis in die achtziger Jahre hinein hat sich Lowrys Mutter um ihn gekümmert. Sie war 92, als sie starb. In ihrem letzten Willen verfügte sie, daß Bob nur kleine Summen aus dem Erbteil ausgezahlt werden. »Sie hat immer gemeint, ich würde das Geld mit den falschen Frauen durchbringen«, meint er lächelnd. »Wahrscheinlich hat sie recht gehabt.«
Erstenmals seit ihrer Beerdigung 1987 besucht er ihr Grab. Sie liegt neben ihrem Mann, der schon in den fünfziger Jahren starb. Lowry findet das Grab zunächst nicht. Chris entdeckt es. »Tatsächlich, da steht''s«, sagt Lowry desinteressiert.
Er ist mit den Gedanken bei Chris. Sollte er wirklich verlegt werden, sieht er sie heute zum letzten Mal. Er schaut sie gerührt an. Die beiden stehen zwischen Marmorsteinen mit verschränkten Lilien, und Lowry ist weit weg, in einem Film, der »Casablanca« heißt , und natürlich weiß er, was er zu sagen hat, und er tut es wie ein vielfach verwundeter Veteran der Liebe: _____« It''s still the same old story, A fight for love und » _____« glory, A case of do or die. The world will always welcome » _____« lovers, As time goes by. »
Chris lächelt. »Laßt uns nach Hause gehen«, sagt sie. Dann nimmt sie seine Hand. Und sie führt den alten Dichter Robert Lowry, der von der Welt vergessen wurde, vorsichtig über die Gräber hinweg, hinüber zum Auto, das ihn zurück in die Anstalt bringt. Y
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:
Robert Lowry *
zählt zu den vergessenen Größen der amerikanischen Literatur. Der in den fünfziger Jahren hochgerühmte Romancier schrieb 1959 einen Roman, dessen Held ein wüster Antisemit ist - nach der Ablehnung durch seinen Verlag und harscher Kritik verwirrte sich der Geist des Autors immer mehr. Heute fristet Lowry, 75, in einer Anstalt sein Dasein. Nur gelegentlich und kaum beachtet hat er noch publiziert: Tagebücher, Erinnerungen und eine »Phantasie über meine vier verlorenen Frauen«.
* Links: in der Öffentlichen Bibliothek von Cincinnati.* In seiner Zelle im »P.W. Lewi''s Center« in Cincinnati.* Mit Schwester Ruth und Sohn Beirne.