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Lars Gustafsson über Umberto Eco: »Der Name der Rose«

Bruder Humor, Schwester Toleranz Umberto Eco, 50, ist Professor für Semiotik an der Universität Bologna. - Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson, 46, lebt in Uppsala und hat unter anderem »Die Tennisspieler« veröffentlicht.
aus DER SPIEGEL 48/1982

Es ist wahrscheinlich, daß etwas Unwahrscheinliches passiert. Mit diesem paradoxen Satz verblüfft der alte Aristoteles im 1. Buch seiner berühmten »Poetik«. Zum Beispiel ist es unwahrscheinlich, daß ein kleingewachsener, schwarzbärtiger Ordinarius für Semiotik

( Lehre von den sprachlichen Zeichen; ) ( Sprachanalyse. )

an der Universität Bologna, der 1932 in Piemonte geboren wurde und für so komplizierte zeichentheoretische und sprachphilosophische Werke wie »Opera aperta« (Das offene Kunstwerk) oder »La struttura assente« (Abwesende Struktur)

( In deutscher Sprache erschienen unter ) ( dem Titel: »Einführung in die ) ( Semiotik«. )

bekannt ist, einen über 600 Seiten dicken Roman schreibt, den binnen zweier Jahre mehr als 450 000 Italiener kaufen. Es ist unwahrscheinlich - und es ist passiert.

Der Ordinarius heißt Umberto Eco, und sein Roman »Il nome della rosa«, der in einer schönen deutschen Übersetzung von Burkhart Kroeber auf den Ladentischen liegt, ist das klügste und zugleich lustigste Buch, das ich seit Jahren gelesen habe. Ich kenne den Autor nicht persönlich. Aber ich habe diesem faszinierend lebhaften Mann, vor vielen Jahren, bei einer Tagung der Deutschen Semiotischen Gesellschaft in Berlin zugehört. Er ist einer von den beneidenswerten Intellektuellen aus Italien, bei denen man, wie bei Thomas von Aquin, leicht den Eindruck bekommt, daß die Genialität ihres Kopfes nur ein anderer Ausdruck ihres Körpers ist, ihrer kräftigen Muskulatur.

In Italien geht seit dem Erscheinen von Ecos Schinken die Anekdote um, daß die vielen Leser nach der Lektüre oft kleine Gruppen bilden und sich gestikulierend in den Haaren liegen. Jeder von ihnen ist überzeugt, sich an eine andere Lektüre zu erinnern. Die einen pochen darauf, einen spannenden Kriminalroman gelesen zu haben, die anderen einen historisch-religiösen Traktat über ein geheimnisvolles Kloster im Jahre 1327, dritte wiederum halten das Buch für höchst aktuell und glauben, ein politisches Buch in den Händen zu halten, eine Parabel auf die Intoleranz gewisser linker Sekten. Schließlich gibt es Leute, die sich vor allem an der allegorischen Sprache und den philosophischen Meditationen delektieren. Sie haben alle recht. Denn Ecos Buch ist die Verwirklichung eines Traumes der Romantiker: Es ist ein Universalkunstwerk.

Ich habe eingangs die »Poetik« des Aristoteles erwähnt: und zwar das 1. Buch über die Tragödie. Für diese Erwähnung gäbe es eigentlich gar keinen Grund, wenn wir nicht von Aristoteles selber wüßten, daß er noch ein 2. Buch zur »Poetik« verfaßt hat, das von der Komödie handelt. Dieses Buch ist in Wirklichkeit verschollen.

In Ecos fiktiver mittelalterlicher Klosterwelt aber spielt das Werk eine geheimnisvolle Rolle: als hochgefährliche Häresie, die im versiegelten Trakt der labyrinthischen Abtei-Bibliothek vor der Neugier der Außenwelt eifersüchtig abgeschirmt wird. Denn der »Poetik« 2. Buch ist der Philosophie des Lachens gewidmet - und Lachen wäre revolutionär. Lachende Priester würden die Autorität der Bischöfe in Zweifel ziehen. Heiter gesinnte Bauern hätten keine Angst mehr vor der Allmacht despotischer Fürsten.

In der letzten Novemberwoche des Jahres 1327 suchen diese Gebirgsabtei, im Auftrag des Kaisers Ludwig, zwei fremde Mönche auf: der belesene englische Franziskaner und einstige Inquisitor William von Baskerville und sein Schüler Adson von Melk, ein lerneifriger junger Benediktinernovize, der große Sympathien für die weltlichen Mächte, den bayrischen Herzog und damit eben jenen Kaiser hegt, der mit dem Papst Johannes XXII. in Avignon gerade über die franziskanische Lehre von der Armut Christi im heftigen Streit liegt. Der in Saus und Braus lebende Heilige Vater hält diese Lehre aus einleuchtendem Grund für Ketzerei.

Als Delegationsleiter des päpstlichen Hofes soll ein paar Tage später der bekannte Hexenjäger Bernard Gui eintreffen, eskortiert von einer Truppe kurialer Bogenschützen. Der Hexenjäger kommt zwar mit der erklärten Absicht, über eine gütliche Einigung ernstlich zu verhandeln. Aber sein wahrer Auftrag ist das glatte Gegenteil: Gui soll die Einigung hinterrücks sabotieren, damit die Macht und Herrlichkeit des Papstes nicht ins Gerede kommen.

Noch vor dieser delikaten Begegnung sind schreckliche Dinge in der Abtei passiert. Kaum vergeht ein Tag, an dem nicht ein Mönch tot aufgefunden wird, stets auf verschiedene Art, aber sehr raffiniert ins Jenseits befördert. Ist der Mörder immer dieselbe Person? Oder sind die armen Mönche Opfer intriganter Kabalen zwischen Brüdern mit sodomitischen Neigungen? Dem Ex-Inquisitor William von Baskerville, dessen Name vielleicht nicht grundlos an einen berühmten Roman von Conan Doyle erinnern soll, kommt in dieser Situation die Rolle eines scharfsichtigen Detektivs zu.

Baskerville nämlich hat die Idee, daß die verschiedenen Todesarten der Mönche die apokalyptischen Prophezeiungen aus der Offenbarung des Johannes nachahmen. Bei Johannes liest er: Der nächste Tote wird im Wasser liegen.

Also organisiert er die Suche nach dem Mörder, indem er die Schemata der Offenbarung auf die rätselhaften Todesfälle im Kloster überträgt. Der Schlüssel scheint zu passen: Die Leiche des nächsten Mönches wird im Badezimmer entdeckt.

Ich möchte dem Leser das Vergnügen an dieser Kriminalgeschichte nicht verleiden, indem ich alles verrate.

Viel lieber möchte ich etwas über den Gedankenapparat im Kopf des Autors Eco sagen. Am Ende des Romans nämlich wird ein bayrischer Mystiker zitiert, der sich über die »Leiter« verbreitet hat: »Er muoz gelichesame die leiter abwerfen, so er an ir ufgestigen.« Das ist Ecos S.218 verspielte Art, Ludwig Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus« in die Welt von 1327 zurückzuverlegen.

Eine Spielerei, die gar nicht so anachronistisch ist, wie sie auf den ersten Blick anmuten mag, denn das Bild von der Leiter, die man wegwerfen soll, wenn man sie hinaufgeklettert ist, gibt es schon bei Sextus Empiricus, und auch der mittelalterliche Denker Duns Scotus hat mit dem Österreicher Wittgenstein aus Cambridge in der Tat vieles gemeinsam.

Der Gelehrte Umberto Eco ist nicht nur ein Sprachphilosoph. Er ist auch ein Sprachmystiker, und zwar einer in der langen Tradition, die bereits in der Antike beginnt und die im Mittelalter sowohl jüdische als auch christliche Ideen inspirieren. In seinem Buch »La struttura assente« (1968) hat er den Relativisten Nietzsche aus der »Fröhlichen Wissenschaft« zitiert: »Die Welt ist uns noch einmal ''unendlich'' geworden; insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt.«

Dieser Gedanke, daß wir hinter jeder Struktur immer wieder eine neue, völlig unbekannte entdecken können, ist der Kern von Ecos Zeichenmystik und Lebensgefühl. Für Eco befinden wir uns im System unserer Begriffe etwa so wie Menschen in einem Fahrstuhl, der ständig weiter aufwärts fährt, für den es keinen endgültig letzten Stock gibt.

Denn über allem thront die »struttura assente«, die »abwesende Struktur«. Man könnte sie Gott nennen. Gott ist auch das geheime Thema des Romans. Er ist auch, wovon der Titel so dunkel spricht: Der Name der Rose. Und er ist wohl auch das verborgene Zentrum des Bibliothekslabyrinthes.

Aber Umberto Eco ist ein moderner Intellektueller. Insofern ist er mit den Phantasien und Dogmen der Linken vertraut. Sein Roman ist darum nicht nur eine Allegorie der »Leiter«, er ist auch ein Buch über die Toleranz. In der Kunstform scholastischer Debatten erzählt es viel über inquisitorische Strenge, politische Geheimbündelei und den Fanatismus utopischer Entwürfe. Ecos Held William von Baskerville hat seinen Dienst bei der Inquisition aus einem durchdachten Grund quittiert: Er hat entdeckt, daß das Auffinden eines Schuldigen nicht immer identisch ist mit dem Auskundschaften der Wahrheit.

Der Feind der Inquisition ist die Toleranz. Über sie aber erfahren wir von Eco, daß sie die Zwillingsschwester des Bruders Humor ist. Das Lachen widersetzt sich dem Fanatismus, es ist das irdische Spiegelbild der göttlichen Abwesenheit. Über die Reinen mit ihren Verhören, Folterwerkzeugen und (ideologischen) Scheiterhaufen sagt Eco manches Kluge. Das Klügste steht auf Seite 492, wo William von Baskerville seinem gelehrigen Schüler eine Frage beantwortet: »Was schreckt Euch am meisten an der Reinheit?« - »Die Eile.«

S.217Lehre von den sprachlichen Zeichen; Sprachanalyse.*In deutscher Sprache erschienen unter dem Titel: »Einführung in dieSemiotik«.*

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