»Laßt Hypothesen anstelle von uns sterben«
Für die Sozialphilosophie in der Bundesrepublik, so urteilte die britische »Times Litterary Supplement«. sei nur noch der Streit zweier Schulen von Belang: der Streit der »linken Mitte« um Jürgen Habermas mit den liberalen Anhängern des Wissenschaftstheoretikers Sir Karl Popper.
Das mag allzu grobmaschig sein, denn dabei wird der Vormarsch der Neuen Linken wie der marxistischen Dogmatiker an den deutschen Universitäten als »harmloser Anarchismus« bagatellisiert. Allerdings -- und darin trifft das Urteil der Londoner Zeitschrift zu -- bildet Poppers nüchterner Rationalismus für viele Soziologen, Politologen und Philosophen ein Bollwerk kritischen Denkens, das dem linken Utopismus gewaltsam-revolutionärer Endsiege widerstehen will.
Zwar haben einige prominente »Popperianer« wie der EWG-Kommissar Ralf Dahrendorf (FDP) -- er wird 1975 Direktor jener London School of Economics, an der Popper 13 Jahre lang gelehrt hat -, Hermann Lübbe (SPD), ehemals Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen, und der Heidelberger Soziologe Ernst Topitsch die Bundesrepublik in den letzten Jahren verlassen.
Aber im »Bund Freiheit der Wissenschaft« um Richard Löwenthal, Wilhelm Hennis und Karl Steinbuch wie in der Gruppe um den Mannheimer Soziologen und Popper-Schuler Hans Albert hat sich die Poppersche Überzeugung erhalten, daß nur der kritische Pluralismus in Wissenschaft und Politik die Grundrechte liberaler Demokratie und damit die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zu wahren vermag.
Diese Grundthese hat Popper zum erstenmal in seinem polemischen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (1945) entwickelt, von ihm erschienen allein in Großbritannien zehn Auflagen. Poppers Hauptwerk »Logik der Forschung« (1934) kam in Deutschland von 1966 bis 1973 auf vier, in England seit 1959 auf sechs Auflagen.
Insgesamt erschienen die Bücher des naturalisierten Briten aus Wien -- Popper emigrierte 1936 nach Neuseeland und lebt seit 1946 in England -- bisher in 16 Sprachen, darunter Arabisch und Japanisch. In einem neuen Buch stellt Popper, 71, nun noch einmal sein Konzept einer kritisch-pluralistischen Wissenschaft und Politik den Utopien der Systemveränderer entgegen*.
Seine Philosophie beruht auf der Hoffnung, daß die Wissenschaft Gewalt, Krieg und Revolution eindämmen könne -- denn ihre »kritische oder vernünftige Methode« besteht darin, »daß wir unsere Hypothesen anstelle von uns selbst sterben lassen«.
Für Popper ist die Wissenschaft selbst revolutionär: ein Wettstreit der Ideen, in dem durch ständige Prüfung Fehler entdeckt, Erwartungen enttäuscht, Theorien widerlegt werden. Diese These ist keineswegs »ruchloser Optimismus« im Sinne Schopenhauers oder der Frankfurter Schule, die -- wie etwa Habermas-Schüler Albrecht Wellmer -- Popper vorwirft, Wissenschaft und soziale Praxis abstrakt zu trennen und damit bestehende Herrschaftsstrukturen zu rechtfertigen.
Doch Popper kennt keine »vernünftige« Gesellschaft, wohl aber immer eine, »die vernünftiger ist als die bestehende, und die wir deshalb anstreben sollen": Das aber bedeutet für ihn Reform, nicht Erlösung durch Revolution. Seine Hoffnung auf kritische Vernunft formuliert er paradox: »Von der Amöbe zu Einstein ist es nur ein Schritt« -- aber in diesem einen Schritt steckt seine ganze Theorie.
Zwar vollzieht sich der »Erkenntnisfortschritt« von der Amöbe bis zu Ein-
* Karl R. Popper: »Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf Hoffmann und Campe Verlag. Hamburg: 420 Seiten: 36 Mark.
stein in gleicher Weise: als Methode von »Versuch und Irrtum«. die auftauchende Schwierigkeiten beseitigt (oder nicht) und damit »Erwartungen« an die Wirklichkeit erfüllt oder korrigiert.
Aber die Amöbe, sagt Popper, kann ihre Erwartungen nicht kritisieren: Sie kann sie sich »nicht vorstellen«, weil sie ein »Teil von ihr« sind. Damit unterliegen sie unablösbar der »natürlichen Auslese« die falsche Erwartungen durch »Ausmerzung der an sie glaubenden Organismen« beseitigt.
Kritische Wissenschaft hingegen besteht für Popper darin, daß die Menschen ihre Hypothesen von sich selbst ablösen, rational prüfen, widerlegen und damit selbst auslesen, statt im ideologischen Kampf ums Dasein zu Propheten und »Märtyrern« ihrer Theorien zu werden.
Poppers Theorie reflektiert wie jede große Theorie eine Not ihrer Zeit: Sein »kritischer Rationalismus« ist das Resultat der sogenannten Grundlagenkrisis der Naturwissenschaften.
Bis zum 20. Jahrhundert galt Isaac Newtons (1643 bis 1727) Mechanik als Modell wahrer und endgültiger Naturerkenntnis. ihr ungeheurer Erfolg, ihre Fähigkeit, die Bewegungen von Sternen, Äpfeln. Kanonenkugeln, Uhren und sogar die Gezeiten vorauszusagen, weckte in vielen Forschern die Erwartung, eines Tages werde eine totale Physik Mensch, Leben und Welt streng kausalmechanisch erklären.
Einsteins neue Gravitationshypothese erwies jedoch Newtons Theorie als vorläufig und nicht allgemeingültig. Ebenso relativierte die statistische Quantenmechanik von Bohr. de Broglie und Heisenberg die Vorstellung, die Naturwissenschaften vermittelten endgültige Erkenntnisse über die Welt. Sie zeigt, daß keineswegs alle physikalischen Ereignisse streng kausalmechanisch voraussagbar sind.
Aus dieser Grundlagenkrisis zog Popper zwei entscheidende Folgerungen: Keine Wissenschaft kann die Wahrheit nachweisbar erreichen, kein Forscher kann mit absoluter Gewißheit eine Theorie rechtfertigen.
Noch wichtiger ist Poppers zweiter Schritt. Seit Francis Bacon (1561 bis 1626) galt den Naturwissenschaften die »Induktion« als selbstverständliche Forschungsmethode: Aus Beobachtungen und Experimenten lassen sich allgemeine Theorien und Naturgesetze aufbauen. Popper hingegen hat gezeigt, daß der induktive Schluß vom Einzelnen aufs Allgemeine ein falscher Schluß ist.
Die induktive Aussage »Alle Schwäne sind weiß« zum Beispiel kann durch unzählige Beobachtungen geprüft werden. und trotzdem verifizieren sie diese Aussage nicht, erweisen nicht ihre Wahrheit. Endgültig ist nur die »Falsifikation": Wird nur ein einziges Mal ein schwarzer Schwan beobachtet, so widerlegt bereits diese eine Beobachtung die angebliche Wahrheit des Induktionsschlusses »Wenn n Schwäne weiß sind, dann sind alle Schwäne weiß«.
Popper verweist auch darauf. daß jede Beobachtung immer schon die Frage nach dem. was beobachtet werden soll, also Theorie voraussetzt. Er behauptet sogar, und zwar in Übereinstimmung mit vielen Biologen, so den Nobelpreisträgern Jacques Monod und Konrad Lorenz: »Es gibt kein Sinnesorgan, in das nicht antizipierende Theorien genetisch eingebaut wären.«
So reagiert das Auge einer Katze auf verschiedene lebenswichtige Situationen. Die jeweils verschiedene Reaktionsfähigkeit oder »Disposition« ist dem Auge eingebaut -- »und damit die Theorie, daß genau diese die bedeutsamen Situationen sind, zu deren Unterscheidung das Auge zu verwenden ist«.
Damit besteht laut Popper alles Lernen oder erworbene Wissen letztlich in der »Veränderung angeborener Dispositionen«, und der Erkenntnisfortschritt in der schrittweisen »Verbesserung des vorhandenen Wissens«. Solcher Fortschritt ist aber nur durch eine kritischnegative Auslese von Hypothesen möglich. Eben deshalb grenzt Falsifikation wissenschaftliche von nichtwissenschaftlichen Theorien ab.
Popper: »Durch die Falsifikation unserer Annahmen bekommen wir tatsächlich Kontakt mit der »Wirklichkeit'. Die Widerlegung unserer Irrtümer ist die »positive' Erfahrung, die wir aus der Wirklichkeit gewinnen.«
Aus diesen Sätzen geht hervor, warum Popper als leidenschaftlicher Anwalt der offenen Gesellschaft auftritt: Auch Sozialtheorien müssen frei konkurrieren können, weil sie alle dem Irrtum ausgesetzt bleiben und erst die Möglichkeit ihrer Widerlegung sie der Wirklichkeit konfrontiert. Geschlossen-diktatorische Gedanken- und Gesellschaftssysteme hingegen sind selber der Wahn, den sie aus der Wirklichkeit vertreiben wollen.
Soziales Handeln ist daher für Popper nur als »Stückwerk-Technologie« möglich, die keine Utopie, sondern schrittweise Verbesserung durch Reform anstrebt. Aber auch Reform muß immer eingedenk bleiben »der unvermeidbaren, ungewollten Folgen unseres Eingreifens. die ... nur allzuoft die Bilanz unserer Verbesserungen zu einer Passivbilanz machen«.
Die Überzeugung, daß es eben wegen dieser Fehlerhaftigkeit menschlichen Denkens und Handelns besser ist, Theorien und nicht Menschen an der Wirklichkeit scheitern zu lassen, diese Überzeugung motiviert Poppers politischen Humanismus: »Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle.«
Daß Poppers Verteidigung der freien Wissenschaft auch auf linke Professoren Eindruck macht, beweist eine Presse-Erklärung des Historikers Imanuel Geiss. Der Mitbegründer der Bremer Universität verurteilte kürzlich nicht nur das »ultralinke Wissenschaftsverständnis« als »total politisiert und ideologisiert«, sondern er bekannte sich auch wie Popper zu einem »Freiraum, wo der Wissenschaftler bei der Durchführung seiner Arbeit Politik und Wissenschaft trennen muß«.