Automobile Leben an Bord
Meterhoch ragend stand das aufgeschnittene Karosseriemodell da, wie ein Denkmal meterdick in Plastik-Marmor eingebacken. Links oben, wie eingemeißelt in den Block aus Kunststoff, sein Name: Clio. Es war ein wenig, als wollten die Renault-Manager die Betrachter ihrer neuesten Kreation in mythische Stimmung versetzen.
»Wir möchten die Phantasie anregen und die Identifizierung des Autos fördern«, erläuterte letzte Woche an der Testbahn von Mortefontaine bei Paris Luc-Alexandre Menard, Chef der Deutschen Renault AG, seinen Gästen. Abrückend von den bisherigen Usancen, ihre Autos nur mit spröden Ziffern zu kennzeichnen, will die Regie Renault ihre Autos künftig mit richtigen Namen auf den Markt bringen. Clio, benannt nach der Muse der Geschichtsschreibung (nach Renault-Deutung auch der Poesie), macht den Anfang.
Clio ist ein rundliches Auto mit nur wenigen Kanten und der Klasse der Kleinwagen zuzuordnen. Das Vehikel wiegt 850 Kilogramm, ist 3,71 Meter lang und 1,62 Meter breit, alles in allem Maße, wie sie kein Konkurrent aufzuweisen hat. Die Modellpalette ist von gebieterischer Breite: Nicht weniger als 45 Modelle, alle mit Vierzylinder-Triebwerken, kann Renault anbieten - vom Clio mit 1,1-Liter-Motor (49 PS) bis zum 65-PS-Diesel und zur sportlichen 1,8-Liter-Variante mit 135 PS und aufwendiger Doppelventiltechnik (die jedoch erst Mitte nächsten Jahres verfügbar sein soll).
Mit über 6,5 Milliarden Franc (rund zwei Milliarden Mark) war der finanzielle Aufwand für die Clio-Entwicklung ungewöhnlich hoch, ungewöhnlich lang auch (mit 54 Monaten) die Entwicklungszeit, die Renault dem Neuling angedeihen ließ. Die Testfahrer strapazierten die Clio-Prototypen mehr als sonst: Über sieben Millionen Kilometer legten sie zurück, teils bei arktischer Kälte im nördlichen Schweden, teils bei Gluthitze in Marokko.
Renault, noch immer gebeutelt von den schweren finanziellen Verlusten vergangener Jahre, hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Clio sei ausersehen, »in Europa in Führung zu gehen«.
Gelänge das, so würde das neue Modell den Erfolg des bisherigen Renault-Kleinwagens fortführen, des seit 1972 in 8,3 Millionen Exemplaren gefertigten R 5. Technisch war dieses Auto, das in zwei Versionen noch zwei weitere Jahre lang gebaut werden soll, im Prinzip vom gleichen Zuschnitt wie seine Konkurrenten VW Polo, Fiat Uno, Peugeot 205, Opel Corsa, Ford Fiesta, Citroen AX oder Japans Kleinwagen-Meute.
Daher hat Renault seinen Clio gleichsam eine halbe Nummer größer gemacht, sucht aber außer räumlichem auch mehr technischen Komfort zu bieten. Zu Grundpreisen zwischen 16 000 und 25 000 Mark - die genauen Preise will die Firma erst im September verkünden - offerieren die Franzosen verschiedene Ausstattungsstufen bis zum serienmäßigen Luxus, bei dem laut Renault »Fahrvergnügen und Leben an Bord Vorrang haben«.
Wer mehr will, kann als »Extra« allerlei Gerät einbauen lassen, das bislang bei Kleinwagen unüblich war: Klimaanlage, beheizbare Außenspiegel, Diebstahlsicherung, Servolenkung, elektronisches Automatikgetriebe oder ABS-Bremssystem. Anders als die anderen seiner Klasse, hat Clio überdies im Innenraum keine nackten Bleche, sondern nur verkleidete Flächen.
Schon heute fertigt Renault täglich 850 Exemplare des neuen Typs, der den deutschen Kunden erst von Januar 1991 an (in vier Versionen) geliefert werden soll. Es ist geplant, die Tagesproduktion mit Hilfe von Renault-Werken in Belgien, Spanien und Portugal allmählich auf 3000 Stück zu steigern.
Ein ausgeklügeltes Fertigungssystem, das sich weitgehend auf Roboter verläßt, soll den Fahrzeugen eine hohe Bauqualität, dem Werk eine optimale Rendite sichern. Benötigt der zeitliche Bauaufwand eines R 5 noch 22 Stunden, so ist ein Clio schon nach 18 Stunden fertig (nächstes anvisiertes Ziel: 16 Stunden).
Der Renault-Chefdesigner Patrick Le Quement bezweifelt allerdings, ob der Übergang zu klangvollen Namen und der Bau eines modernen Autos allein genügen, die vom Renault-Management so heiß ersehnte Familien-Identität ihrer Baureihen herbeizuführen. Le Quement hat in seiner erst kurzen Amtszeit die Gestaltung des (bereits 1985 konzipierten) Clio nicht mehr beeinflussen können, strebt jedoch für die Zukunft »mehr Identität durch wirklich alternative Autos« an.
»Einen Mercedes-Benz erkennt man fast auf 1000 Meter als Mercedes-Benz«, sagte der Künstler und beklagte, daß ein Renault sich frühestens auf 20 Meter als solcher zu erkennen gebe.
»Einen Renault«, so Le Quement, »sollte man wenigstens auf 100 Meter eindeutig als einen Renault ausmachen können.« Gefragt, ob das beim neuen Clio der Fall sei, antwortete der Chefdesigner freimütig: »Nein, bei dem auch nicht.«