Samira El Ouassil

Debatte über »Ramschpreise« für Lebensmittel Hummer für alle!

Samira El Ouassil
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Was wir essen können, was wir essen wollen und was wir essen sollten, sind natürlich politische Fragen. Das führt zu Cem Özdemirs Vorstoß, den Preis für Fleisch zu erhöhen.
Ist teuer: Hummer

Ist teuer: Hummer

Foto: iStockphoto / Getty Images

»Hummerschalen im Haus werden als Zeichen von Armut und Erniedrigung angesehen.« Das schrieb der Autor John J. Rowan im Jahr 1876. Aufgrund der Überpopulation der Krustentiere an den Küsten Neuenglands galt Hummer in den USA lange Zeit als verpöntes Ramschessen. Kein wohlhabender Menschen wollte sich dazu herablassen, die »Kakerlake der Meere« zu verspeisen, vor allem wenn er auf eigene Landtiere zurückgreifen konnte. Die massenhaft verfügbare Proteinquelle hingegen war Armen, Bediensteten, Gefangenen und Sklaven vorbehalten. Eine Zeit lang war amerikanischer Hummer so günstig, dass er wie Thunfisch in Dosen verkauft wurde und die Menschen den Lobster sogar an ihre Katzen verfütterten.

Wie wurde es vom Katzenfutter zur dekadenten Gourmetspeisung? Durch Einführung des amerikanischen Eisenbahnverkehrs Mitte des 19. Jahrhunderts. Hummer wurde in den Zügen im ganzen Land serviert, eben weil er so günstig war, aber den Fahrgästen als seltene exotische Speise präsentiert wurde. Die Inlandsreisenden kannten Hummer nicht und kamen in der Reisesituation auf den Geschmack. Sie wussten schlicht nicht, dass es »Arme-Leute-Essen« war. Er wurde zu einem so beliebten Produkt, dass die Nachfrage den Preis steigen ließ und das Angebot knapp wurde. Die Meereskakerlaken wurden zu einem Luxusgut und elitäres Distinktionsmerkmal. Endlich konnten sich auch Reiche Armut leisten.

Neue Wertschätzung

Ich bringe diesen historischen Exkurs über den Hummer hier nur an, um auf die Möglichkeit einer Denkverschiebung in der Konsumpsychologie hinzuweisen. Mit der Art und Weise wie wir gemeinhin ein Produkt konsumieren, ändert sich oftmals auch die Wertschätzung für dieses Produkt. Etwas, das wir als wertvoll empfinden oder das gesellschaftlich als hochwertig und nobel eingestuft wird, scheint uns besser zu schmecken. Unser Geschmack ist oftmals nicht nur das, was uns schmeckt, sondern auch ein sozial kultivierter und ein von ökonomischen Umständen bestimmter. Und somit ist das, was wir essen können, was wir essen wollen und was wir essen sollten natürlich auch eine politische Frage.

Das führt mich zu Cem Özdemirs Vorstoß, den Preis für Fleisch zu erhöhen, um eine neue Wertschätzung zu kultivieren, um das Tierwohl zu verbessern und Landwirte zu unterstützen. Durch die Reduktion des Fleischkonsums, die höchstwahrscheinlich folgen würde, wird zudem die Umwelt entlastet – was doch durchaus begrüßenswert wäre. Wie könnte man diesen Vorschlag also für einen ungerechten halten?

Die Frage ist, an welchen Stellschrauben man dreht, um gesellschaftliche Zusammenhänge bestenfalls positiv zu beeinflussen – und wer davon ggf. mehr betroffen ist als andere. Darf man ein Nahrungsmittel, das ein wichtiger wie notwendiger Bestandteil der Versorgung einer Gesellschaft zu sein scheint, zu einem Luxusprodukt deklarieren, um die Umwelt zu schützen, wenn dadurch ein bestimmter Teil der Gesellschaft durch die an sich ja richtige Bestrebung des Umweltschutzes ausgeschlossen wird? Offensichtlich befinden sich hier bestimmte Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und von notwendigen Umweltschutzmaßnahmen in einem vermeintlichen Widerspruch.

Verbesserung des Tierwohls

»Vermeintlich«, weil beides wechselseitig natürlich miteinander verschränkt ist, aber speziell die Preiserhöhung als Instrument doch zu diesem Eindruck führen muss. Denn nüchtern runtergebrochen ist eine Forderung, durch welche die Gesellschaft zu einem besseren Konsumverhalten hingenudgt werden soll, welche aber de facto einkommensschwache Menschen systematisch am meisten einschränken und zugleich nur die habituellen Privilegien Bessergestellter verfestigen würde – Fleisch als Statussymbol, das man sich ab und zu gönnt und eben erstmal leisten kann – als Vorstoß unwillentlich klassistisch.

Eine einkommensschwache Gruppe wird benachteiligt, eben weil sie einkommensschwach ist – wobei eben nicht zugleich kommuniziert wird, dass ihr auch der Zugang zur besseren Nahrung ermöglicht werden soll. Es ist teuer, arm zu sein. Zugleich – da sind wir uns sicherlich einig – muss aber selbstredend eine Verbesserung des Tierwohls sowie der Bezahlung von Landwirten umgesetzt werden. Rechtfertigt das eine also das andere? Korrigiert eine ungerecht gestaltete Preispolitik, die sich nur wenige leisten können, eine global verschuldete, ungerechte und ökologisch schädliche Ökonomie der Massentierhaltung?

Das erscheint mir die Hummerfrage: Ist Fleischlosigkeit eine klassistische Forderung, weil eine vollwertige pflanzenbasierte Ernährung aus nachvollziehbaren Gründen, die nicht von armen Personen verändert werden können, für Reiche einfacher umsetzbar ist als für Arme? Denn: Sich frei für einen Verzicht entscheiden zu können, ist der eigentliche Luxus, den sich nicht jeder leisten kann.

Ökologische Ziele

Das bewusst gegönnte oder eben bewusst und freiwillig vermiedene Fleisch ist nur eine Manifestation dieser Unausgeglichenheit. Wie kann es gerecht sein, wenn ein Umweltschutz, der allen zugutekommen soll, mit mehr Unfairness für manche verbunden ist? Wie viel Umweltbewusstsein passt der Regierung nach in eine Grundsicherung? Die Diskrepanz wird insbesondere beim Fleisch sichtbar, da gerade Fleischkonsum durch seine ökonomischen Verflechtungen und ökologischen Auswirkungen auch politisch ist – und der bewusste Verzicht dementsprechend auch.

Bei der rein pflanzenbasierten Ernährung kommen neben den Aspekten der individuellen Gesundheit, des eigenen Geschmacks, der gesellschaftlichen Performanz auch zwei ethische Momente hinzu – ob gewollt oder nicht: die des Tierwohls und des Umweltschutzes. Mit den Bestrebungen weniger oder gar kein Fleisch zu essen, werden diese beiden Aspekte sinnvollerweise verhandelt.

Fleisch – wie damals den Hummer – von einem Massenprodukt der Grundversorgung hin zu einem Luxus zu etikettieren, um den Konsum zu regulieren, unterstellt aber im Umkehrschluss, dass den Einkommensschwachen, die günstiges Fleisch kaufen, das Tierwohl und der Umweltschutz egal sind. Sie sind also nicht nur zu faul oder ungebildet, um gesund zu kochen und sparsam zu sein (so wird das nichts mit dem sozialen Aufstieg!), sie sind noch dazu amoralische Tierleidhinnehmer, denen die Erde wurscht ist – und dazu sind sie auch noch unsolidarisch mit den Landwirten.

Diese Phalanx der drei richtigen Gründe für eine pflanzenbasierte Ernährung – Gesundheit, Tierschutz, Umwelt – lässt jene, die dies aus ökonomischen Gründen nicht leisten können, wie egoistische Schurken dastehen; und das macht die Idee einer Fleischpreiserhöhung im Namen des Gemeinwohls zu einer ausgrenzenden. Es ist eine Idee, die vor allem in einer leistungsorientierten Gesellschaft gut verfängt, die auch lieber glauben möchte, dass die Armut der Armen ohnehin Produkt und Vergehen ihrer individuellen Charakterschwächen sei.

Aber! Özdemirs Absichten sind natürlich notwendig und valide. Landwirte müssen selbstverständlich unterstützt, Tiere geschützt und bestenfalls komplett verschont, der Fleischkonsum in globalen Zusammenhängen drastisch reduziert werden. Ökologische Realität ist: Wir können unsere Umwelt nicht schützen, wenn wir weiterhin regelmäßig Fleisch essen. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer schreibt: »Wären Kühe ein Land, so wären sie der drittgrößte Treibhausgasemittent der Welt.«

Die Klimakrise ist die Zeitlupenimplosion einer Welt, die alle Ressourcen, die uns die Natur zu Verfügung stellt, verramscht – auch und insbesondere Fleisch. Und damit werden wir mit folgender Situation konfrontiert: Wenn wir Fleisch essen, schaden wir der Umwelt. Fleisch einfach teurer zu machen, benachteiligt jedoch arme Menschen. Fleisch billig zu lassen, fördert die Ausbeutung der an der Produktion beteiligten Akteure und der natürlichen Ressourcen. Es müssten folglich soziale Leistungen erhöht, Menschen aus der Armut geholt und damit Alternativen zum Fleisch für alle gleichermaßen zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig müsste Natur durch eine systemische Veränderung der Produktionsverhältnisse geschützt werden. Nicht der einzelne Hartz-IV-Empfangende oder die Familie am Existenzminimum sollte gezwungen werden, das Klima zu retten, das Problem ist struktureller Natur – und es muss daher strukturell gelöst werden, nicht erst beim Endverbraucher.

Wir benötigen also eine ökonomische Veränderung der Konsum- und Produktionsverhältnisse, um die dringlichen ökologischen Ziele zu erreichen, und müssen zugleich eine soziale Gerechtigkeit herstellen, die allen Menschen Zugang zu einer gesunden Ernährung ermöglicht, in Deutschland, aber auch in einem globalen Rahmen. Ökologische Fragen sind soziale Fragen sind ökonomische Fragen. Mehr denn je brauchen wir heute ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, eine faire Einigung, was wirklich essenswert ist – und was nur Hummer.

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