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KIRCHE / FERNSEHEN Leere Bänke

aus DER SPIEGEL 43/1969

»Ich verstehe nicht«, bekannte der Katholik Werner Höfer, Direktor des Dritten Fernsehprogramms beim Westdeutschen Rundfunk, seinen Redakteuren, »wie die protestantische Kirche organisiert ist und wie sie arbeitet. Das sollte man doch mal zeigen.«

Nun wird es gezeigt: Bis zum Weihnachtsfest, an 13 Mittwochabenden zu je 30 Minuten, strahlt das Kölner Dritte TV-Programm in der Sendereihe »Horizonte« eine Bestandsaufnahme des Protestantismus aus, die von der Evangelischen Filmgesellschaft »Eikon« im WDR-Auftrag produziert worden ist, Alle anderen Dritten Fernsehprogramme der ARD -- Bayern ausgenommen -- ziehen nach. Gründlicher und kritischer ist Kirchenfunk im Fernsehen bislang nicht gewesen.

»Im 5. Jahrhundert nach Wittenberg« (Serien-Motto) leiden die Protestanten, so einzelne Untertitel, an einer »Krise des geistlichen Amtes«, an der »Kirche der leeren Bänke« und an der »Mission im Umbruch«.

Zu Orgel-Brausen und Posaunen-Schall, zum Gemeindechoral und Beatgeheul präsentieren je drei Theologen und ARD-Kirchenfunkredakteure Meinungen, die sie bei Predigern, Betschwestern und Atheisten am Rhein und am Mississippi gesammelt haben.

Der Göttinger Pfarrer Gerhard Isermann, im »Wort zum Sonntag«

schult, kommentiert vor nachtschwarzem Hintergrund den gewundenen Weg der evangelischen Gläubigen. Regisseur Heiner Michel hat ihn mit historischen Stichen und aktuellen Schnappschüssen von Luthers Thesenanschlag 1517 bis zum Stuttgarter Kirchentag 1969 bebildert.

Gottesmänner tragen neben Generalen und Industrie-Kapitänen die letzte deutsche Kaiserin Auguste Viktoria zu Grabe, »Deutsche Christen« marschieren mit SA und SS im gleichen Schritt, Männer der »Bekennenden Kirche« verenden im Konzentrationslager, Bischof Dibelius chauffiert 1951 im Mercedes durchs Brandenburger Tor nach Ost-Berlin zu einer Veranstaltung des Kirchentags; denn: »Wir sind doch Brüder.«

Aber die protestantischen Brüder, das wird in Graphiken gezeigt, beten getrennt: Der deutsche Protestantismus ist in 13 lutherische, zwölf unierte und zwei reformierte Landeskirchen sowie 14 Freikirchen zersplittert. Lutheraner, sie gestehen es im Interview, wollen »auf gar keinen Fall« mit Baptisten gemeinsam Andacht halten: »Die haben einen anderen Glauben.«

Und sie verkünden ihn auch anders: Lutherische Pfarrer tragen andere Barette und Beffchen als ihre unierten und reformierten Amtsbrüder. »Protestantischer Pluralismus«, polemisiert der Kölner Kommentator, »treibt kuriose Blüten,«

Der treuen Gemeinde jedoch ist das recht. Sie will nur eines: »Der Herr Pastor«, schwärmen Kirchgänger vor der Kamera, »soll in allem ein Vorbild sein, er muß einfach erhaben sein und etwas ausstrahlen.«

Aber diese Gemeinde ist klein geworden: Nur jeder zehnte von »27 Millionen protestantischer Taufscheinchristen« der Bundesrepublik, das haben die Autoren nachgerechnet, geht noch zum Gottesdienst, obwohl sich 92 von 100 vom Pfarrer trauen und 96 Prozent von ihm beerdigen lassen, 1967 traten 44 500 evangelische Christen aus den Landeskirchen aus, 29 000 neue kamen hinzu.

Und dennoch fühlt sich der Protestantismus als feste Burg und baut neue Gotteshäuser: 1969 besaßen die Landeskirchen 1200 Betstätten mehr als vor dem Kriege. Die meisten stehen leer. »Die Protestanten«, resümiert ein Pfarrer, »leben in einer konfliktlosen Distanz zu ihrer Kirche.«

Junge Kirchenmänner wollen diese Distanz nun verkürzen, der Kölner Kirchenfunk zeigt, wie: An der Bochumer Ruhr-Universität werden Jungtheologen bereits in Telephonseelsorge unterrichtet. In der Amsterdamer Trabantenstadt Bijlmermeer mieten Katholiken und Protestanten kleine Läden, wo sie die Heilslehre gemeinsam verkünden. Unter manchem Kirchenkreuz wird nicht mehr gepredigt, sondern diskutiert, statt der Orgel spielen Combos. Pfarrer gründen Vereine gegen Lärmbekämpfung« helfen ihren Gläubigen bei der Steuererklärung und vermitteln. Wohnungen. »Das Bild des Protestantismus«, prophezeit der Kölner Moderator, »wird künftig eher noch bunter als einheitlicher sein.«

Dieses Bild ist den Protestanten interessant genug: Mehr als 120 nordrhein-westfälische Volkshochschulen und 250 Kirchengemeinden an Rhein und Ruhr schalten jeden Mittwoch auf Gemeinschaftsempfang« diskutieren die TV-Reihe in kleinen Gruppen und teilen dem WDR in kritischen Arbeitsprotokollen ihre Meinung mit.

Schon nach der ersten Folge registrierten Höfers Redakteure »an die tausend Anmeldungen zu Diskussionsgruppen«. Noch in diesem Jahr soll die Kirchenpolemik bei »rororotele« als Taschenbuch erscheinen.

Von diesem Interesse an der Kirchensendung ermuntert, will der WDR, Drittes Programm, demnächst eine neue Serie in Angriff nehmen. Im Winter 1970/71 wird der Katholizismus kritisch untersucht.

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