»Letzte Chance für Europa«
SPIEGEL: Professor Palumbo, wann wird, nach Ihrer Schätzung, der erste Fusionsreaktor in Europa Strom erzeugen und wieviel?
PALUMBO: Er könnte einen beträchtlichen Teil des europäischen Energiebedarfs befriedigen. Die meisten Experten glauben, daß es in 30 Jahren soweit ist. Ich bin da optimistischer: Wenn die Fusion überhaupt möglich ist, kann man es früher schaffen.
SPIEGEL: Nun droht bereits der Bau der Fusions-Versuchsanlage »Jet« zu scheitern. Ist das Projekt mit dem Beharren der Franzosen auf einem französischen »Jet«-Standort verspielt worden?
PALUMBO: Man sollte vermeiden, die Sache emotionell zu strapazieren. Es stimmt aber: Das Unternehmen ist in einer sehr schwierigen Lage. Wir erwägen erstmals die Möglichkeit, daß »Jet« aufgegeben werden muß.
SPIEGEL: Ist »Jet« den Arbeiten am »Schnellen Brüter« geopfert worden, in dessen Entwicklung Frankreich und die Bundesrepublik Milliardensummen pumpen?
PALUMBO: Nein. Der Konflikt um »Jet« ist eher ein »accident du parcours« -- ein Unfall bei einem politischen Hindernisrennen.
SPIEGEL: Sind die am Projekt beteiligten Atomphysiker eigentlich je befragt worden, ob sie lieber in Italien, Deutschland, Frankreich oder England forschen wollen?
PALUMBO: Es gab Diskussionen auf politischer und wissenschaftlicher Ebene. Offiziell wurden meine Kollegen aber nicht gefragt.
SPIEGEL: Sie sind Italiener. Würden Sie das Team nicht doch lieber in Ispra angesiedelt sehen?
PALUMBO: Ispra hat ganz bestimmte Vorzüge. Es ist bereits ein Forschungszentrum der Gemeinschaft, und auch die Stromversorgung dort genügt den Ansprüchen. Dafür besitzen andere Zentren wie etwa Garching und auch Culham Erfahrungen auf dem Gebiet der Plasma-Physik. Solche Unterschiede rechtfertigen aber nicht die jahrelangen Verzögerungen, wie wir sie mit »Jet« erleben.
SPIEGEL: 1973 arbeiteten 53 Top-Physiker an dem Projekt. Zuletzt waren es noch 42. Wo sind die anderen mittlerweile hingegangen?
PALUMBO: In ihre nationalen Forschungszentren. Einige werden wohl in andere Länder gehen. Letzte Woche haben wieder sechs das Team verlassen.
SPIEGEL: In die USA?
PALUMBO: Ja, einige der Physiker werden Angebote aus Amerika bekommen. Dort können sie an einem vergleichbaren Projekt arbeiten. Das ist zwar normal; denn schließlich kooperieren wir mit den Amerikanern. Für Europa aber wäre das sehr schlecht.
SPIEGEL: Sind die Europäer in der Fusionsforschung noch immer führend?
PALUMBO: Bei einem offiziellen Vergleich im Juli 1975 zwischen Europa, Japan, den USA und der Sowjet-Union waren wir ein Jahr voraus. Jetzt, bei einem zweiten Vergleich, der vor wenigen Wochen an der Princeton University unternommen wurde, betrug der Vorsprung nur noch wenige Monate. Die Möglichkeit, den Vorsprung halten zu können, ist sehr bescheiden.
SPIEGEL: Müssen die Europäer eines Tages ihren Fusionsreaktor in den USA bestellen?
PALUMBO: Keine Region der Welt müßte soviel Interesse an der Fusion haben wie gerade Europa. Schon jetzt müssen die EG-Staaten Hunderte von Millionen Dollar für importiertes Rohöl und Uran aufwenden. Die Fusion ist deshalb nicht irgendeine, sondern die letzte Chance,