HOCHSCHULEN / HABERMAS Letzter Versuch
Erst stellte der Gelehrte »wahnhafte Syndrome« fest, dann aber bemerkte er nur noch »fixe Ideen«. Erst hielt er die Niederlage der radikalsten Linken für »notwendig«, dann nur noch für »vorhersehbar«.
So sorgfältig wählte der Frankfurter Philosoph und Soziologe Professor Dr. Jürgen Habermas, 39, seine Worte für eine Arbeit, die unter dem Titel »Protestbewegung und Hochschulreform« in dieser Woche veröffentlicht wird*.
Die Erstfassung und die Endfassung, jetzt als Einleitung zu einem Sammelband mit Habermas-Aufsätzen gedruckt, unterscheiden sich an einem Dutzend Stellen. Und stets ist die neue Formulierung milder als die alte.
Die 42-Seiten-Arbeit ist der bislang letzte Versuch des Frankfurter Professors, der Protestbewegung einen Sinn zu geben und sie nicht in der Sackgasse der Scheinrevolution enden zu lassen. Aber weil Habermas zu einem überaus kritischen Urteil über die linken Aktivisten kommt, fürchtet er falschen Beifall von rechts ebenso wie unsachliche Kritik von links.
Noch vor zwei Jahren war er -- fast wie Herbert Marcuse -- ein Mentor der aufsässigen Jugend. Doch Studenten, die ihm einst zu Füllen saßen, besetzten im Dezember 1968 das Seminar, das Habermas gemeinsam mit Theodor Adorno und Ludwig von Friedeburg leitet. Und in einem Comic strip verhöhnte das Links- und Sex-Blatt »Konkret« den Philosophen.
Seminar-Sturm und »Konkret«-Strip sind Reaktionen auf das Verhalten des Professors. Nie machte Habermas aus seiner Sympathie für die linken Studenten ein Hehl, aber ebenso offen kritisierte er sie auch. Schon Im Juni 1967 warnte er sie davor, einen »linken Faschismus« zu entwickeln, später auch davor, »Symbol und Wirklichkeit« zu verwechseln und sich an einer »Scheinrevolution« zu berauschen.
Doch noch immer ist Habermas einer der wenigen deutschen Professoren, die auch von linksradikalen Studentenführern gelesen und gehört werden. »Besonders die jüngeren Repräsentanten der außerparlamentarischen Opposition«, so bekannte noch 1968 der Apo-Ideologe, Habermas-Assistent und Habermas-Gegner Oskar Negt, »sind vom Habermasschen Denken selbst dann noch abhängig, wenn sie sich gegen seine politischen Konsequenzen wenden.«
Ob es diese Denkabhängigen auch noch geben wird, wenn die neueste Habermas-Schrift unter den Linken kursiert, ist mehr als zweifelhaft.
* Jürgen Habermas: »Protestbewegung und Hochschulreform«. Suhrkamp Verlag; 288 Seiten; 5 Mark.
Seinen Text hatte Habermas nicht nur dem Lektorat des Suhrkamp Verlages geschickt, sondern auch einigen Freunden. Auf ihren Rat hin entschärfte er die Kritik an einigen Stellen. Gleichwohl zeigt die neue Habermas-Arbeit, daß den Frankfurter Professor mit den Linksaktivisten unter den Studenten so gut wie nichts mehr verbindet. Er sieht ihr Fiasko voraus und will verhindern« daß »die Protestbewegung in die vorhersehbare Niederlage ihrer aktionistischen Irrläufer hineingezogen wird«.
Habermas macht sich eine Forderung zu eigen, die bislang »vor allem von Gegnern oder von distanzierten Beobachtern« erhoben worden ist: unter den Linken zu differenzieren. Das hält nun auch Habermas für notwendig, weil von den SDS-Spitzen das politische Bewußtsein der anderen Studenten nicht mehr gefördert, sondern in Berlin und Frankfurt »eine dem Denken und der Wissenschaft feindliche Agitation« betrieben wird. Rhetorisch fragt Habermas sich und seine Leser, »ob solche Gruppen nicht schon die Prinzipien aufgeklärten Handelns zugunsten eines vorsätzlichen Irrationalismus verabschiedet haben«.
Aufklärung ist denn auch das Stichwort, das heute wohl die Geister scheidet. Habermas hat schon früher eine »langfristige Strategie der massenhaften Aufklärung« gefordert und ist auch in seinem neuen Werk dabei geblieben. Er verwirft jene Taten der Extremisten, die kaum noch kontrolliert würden: weder von der Vernunft noch an der Erfahrung noch hinsichtlich ihres Erfolges.
Habermas und seine einstigen Schüler sind verschiedener Ansicht über
* die Gewalt, die der Professor vor allem dann ablehnt, »wenn Unrecht nicht mit Händen zu greifen ist«,
* den Staat, den Habermas -- bei aller Kritik und Distanz -- nicht für faschistisch, sondern immer noch für einen Rechtsstaat hält,
* die Hochschulreform, die von den SDS-Führern abgelehnt und sabotiert, von Habermas aber bejaht und mit Vorschlägen gefördert wird. Den eingebildeten Erfolgen der Protestbewegung stellt er die tatsächlichen gegenüber und die wirkliche Einstellung der studentischen Jugend den Interpretationen, die unter den linken Ideologen gängig sind. Er ist um den Nachweis bemüht, daß diese sich weder auf die marxistische Theorie noch auf anarchistische Traditionen noch auf die chinesische Kulturrevolution berufen können.
So energisch wie Habermas »scheinrevolutionäre Abenteuer« an den Hochschulen ablehnt, fordert er eine »Demokratisierung der Hochschule«. Darunter versteht er vornehmlich, daß alle Gruppen auf allen Ebenen öffentlich und frei von Zwang mitbestimmen.
Die linksradikalen Studentenführer sind laut Habermas so dogmatisiert, daß sie ihr »scheinrevolutionäres Selbstverständnis« nicht mehr aufgeben können. Ihre Zukunft, so mutmaßt der Soziologe, werde womöglich fern der Hochschule und fern der Politik liegen: wenn sie sich in »Subkulturen« ansiedeln und -- ähnlich wie »Underground«-Künstler oder Hippies -- die Gesellschaft nicht mehr politisch verändern, sondern die Jugend nur noch in ihrer Freizeit beschäftigen. Habermas: Das »ergäbe für die Zukunft des Protestes eine bedrückende Perspektive«. Sie würde sich allerdings dann nicht verwirklichen, wenn der Protestbewegung ein neues Ziel gegeben werden könnte.
Das hält Habermas unter anderem deshalb für möglich, weil sich in den letzten Jahren -- aufs Ganze gesehen -- das politische Bewußtsein der deutschen Studenten »entscheidend verändert« habe. Das »demokratische Potential an den Hochschulen« sei »stärker als je seit dem Ende des Krieges«, stärker sogar als je seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Zum erstenmal gebe es wieder eine linke Studentengeneration in Deutschland.
Zwischen Revolution und Reform will Habermas künftig nicht mehr unterscheiden. Ziel müsse »radikaler Reformismus« sein, auch wenn er revolutionäre Folgen habe -- etwa wenn »die Nebenfolgen der Reform mit der Produktionsweise des bestehenden Systems unvereinbar sind«. Er meint, daß sogar »aller Voraussicht nach eine konsequent betriebene Bildungspolitik zu systemgefährdenden Konflikten führen« würde.
Wie auch immer die Linken auf die Habermas-Erkenntnisse reagieren werden -- der Frankfurter Philosoph wird vermutlich dazu schweigen. Es gibt Anzeichen dafür« daß er die »resignative Enthaltsamkeit gegenüber der Praxis«, die er früher tadelte, künftig selber üben und sich zur wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen will.