FILM Liebe Jungs
Mit verklärtem Gesicht ruft der Führer von New Yorks mächtigster Getto-Bande vielen Hundert Jugendlichen zu: »Wir suchen uns unsern Lebensraum!« Alle Banden der Stadt sollen zusammenhalten, so wären sie mächtiger als die Polizei, könnten sie New York beherrschen. Frenetischer Beifall.
Diese sinistre Utopie einer totalen Gegenwelt, sarkastische Umkehrung von Martin Luther Kings berühmter »Ich habe einen Traum«-Eloge, eröffnet einen Film, der diese Woche mit 65 Kopien bei uns anläuft und dem ein martialischer Ruf vorauseilt.
»Die Warriors« starteten am 9. Februar in 670 amerikanischen Kinos. Innerhalb einer Woche gab es unmittelbar nach Vorstellungen des Films drei Tote, viele Schwerverletzte, Schlägereien, Gewaltakte gegen Passanten. Einige Kinos zogen den Film zurück, den übrigen postierte der Verleih gratis Wachpersonal in den Saal.
Der Prophet der Eingangsszene wird erschossen und die Bande der »Warriors« (Krieger) des Mordes bezichtigt. Der Film beschreibt ihre Odyssee durchs nächtliche New York. Ständig bedroht von der Polizei und von feindlichen Gruppen, deren Terrain sie passieren müssen, die sie verfolgen und töten wollen, fliehen die »Warriors« von der Bronx quer durch Manhattan bis ins südliche Brooklyn.
Walter Hills Film ist eine harmlose Billigproduktion (fünf Millionen Dollar), knallig und oberflächlich, nur halbherzig stilisiert zum plakativen Street-Gang-Comic; banale Dialoge, plane Figuren, die unrealistische, menschenleere Szenerie eines fahlen, urbanen Neon-Nocturnos.
Die »Warriors« sind eher liebe Jungs als furchterregende Krieger, ihre Prügel-Orgien naive Eastern-Anleihen, die Mordgelüste ihrer Gegner unglaubwürdig. Vielleicht macht ihre keimfreie Heroisierung auf der Leinwand die Gangs im Parkett stolz und froh -- die Verletzten und Toten gehen nicht aufs Konto des Films, sondern der barbarischen Fehden dieser Jugendbanden. Die »Warriors« sind nur der äußere Anlaß, denn wo mehr als zwei Gangs zusammentreffen, wird gekämpft, mit Knüppeln, Messern, Pistolen.
Die Straßen-Gangs sind zur Plage aller großen amerikanischen Städte geworden. Sie nennen sich »Schwarze Killer«, »Errol Flynns« oder »Nomaden«, »Die Dreckigen«, »Wilde Schädel« oder »Gettobrüder«. Sie rauben, morden, erpressen, vergewaltigen und liefern sich blutige Massenschlachten. Paramilitärisch organisiert (die Mörder-Einheit heißt immer »gestaposquad"), kontrollieren sie in Mafia-Manier ihre Getto-Distrikte.
Ihre Mitglieder sind Kinder und Jugendliche der Slums, meist Schwarze und Puertoricaner (an der Westküste Mexikaner), Asiaten, einige Frauen, einige Weiße. Arbeitslos, von Alkohol und Brutalität aus ihren Elternhäusern getrieben, bilden sie Gruppen, wo sie Nestwärme finden und die Befriedigung, endlich zurückschlagen zu können.
Straßen-Gangs gab es schon immer in den Arbeitervierteln amerikanischer Städte. Ihre Aktionen blieben auf harmlose Streiche oder kleine Diebereien beschränkt, ihre Bandenkriege waren unblutig.
In den fünfziger Jahren flackerten zum erstenmal Gewalt und Kriminalität bei den Jugendbanden in den Gettos auf, in den sechziger Jahren lähmte dann der exzessive Drogenkonsum in den Slums jeden Widerstand.
Doch seit etwa zehn Jahren sind sie wieder da, dem »Time«-Magazin nach inzwischen »besser organisiert als je zuvor, schwerer bewaffnet und unempfindlicher gegenüber dem Blut, das sie vergießen«. Die Verbrechen wurden härter, die Täter immer jünger. Allein in New York schätzt man die Zahl der Gangs auf mehrere hundert.
Nicht nur die Gangs, auch Filme über Kinder- und Jugendbanden haben ihre Tradition in Amerika. Nach William Wylers »Dead End« (Sackgasse) von 1937 und der dem Film folgenden Serie nannte man Slum-Kinder lange Zeit die »Dead End Kids«.
1938 drehte Michael Curtiz mit James Cagney und Humphrey Bogart eine kritische Darstellung des Slum-Milieus: »Angels with Dirty Faces«. Weitere Großväter des Genres sind Nicholas Rays »Denn sie wissen nicht, was sie tun« (1955), mit James Dean, Richard Brooks« »Die Saat der Gewalt« (1955) und das Musical »West Side Story« (1961) von Robert Wise und Jerome Robbins. Wie eine Vor-wegnahme der akuten Situation in den USA erscheint heute Kubricks »Uhrwerk Orange« -- 1971 noch ein Science-Fiction-Film.
Der Gang-Film, auch »Warriors«, variiert nur einen Topos des amerikanischen Western-, Kriegs- und Abenteuerkinos: die Mär vom »Dreckigen Dutzend« oder der »Verlorenen Patrouille«, vom verlorenen, verschworenen Haufen in Feindesland; lauter letzte Helden.
Idealisiert und ritualisiert, wackere Kämpen und treue Kameraden, aufrechte Streiter für Tugenden wie Mut und Tapferkeit, Kraft und Stolz, Loyalität und Stoizismus -- das sind die »Warriors« viel eher als Abbilder der düsteren Realität in den US-Slums. Und das gilt weitgehend für eine ganze Serie neuer Filme zu diesem Thema:
* »Walk Proud« von Robert Collins spielt in Los Angeles: eine mexikanische Gang als Kulisse einer lauen Romeo-und-Julia-Geschichte Der Held verläßt Gang und Getto und folgt seiner Julia in bessere Verhältnisse;
* »Boulevard Nights« von Michael Pressmann versucht, das Chicano-Milieu von Los Angeles realistischer zu erfassen, mit Laien-Darstellern aus den Slums. Der Konflikt zweier Brüder -- Leben in der Gang oder Ausbruch ins Kleinbürgertum -- bleibt konventionelles Melodrama; > »Boardwalk« von Steven Verona benutzt das Getto nur als Ambiente: Lee Strasberg und Ruth Gordon als Vorstadt-Rentner werden von den Gangs in Brooklyn terrorisiert; > »Over the Edge« von Jonathan Kaplan greift den Generationskonflikt des James-Dean-Films wieder auf: Mit seiner Gang hintertreibt ein Junge die unsozialen Makler-Spekulationen seines Vaters;
* »80 Blocks from Tiffany's« ist ein semi-dokumentarischer Fernsehfilm der NBC über die Süd-Bronx, das heißeste Gang-Terrain Amerikas. Regisseur Gary Weis: »Es ist die unglaublichste Gegenkultur-Erfahrung, die ich je gesehen habe«;
* »Assault -- Anschlag bei Nacht« (SPIEGEL 12 und 27/1979) mystifiziert eine Gang in Los Angeles, die eine einsame Polizeistation belagert, zu anonymen Kamikaze-Kämpfern. Regisseur John Car sieht in ihnen »Tötungsmaschinen mit der Mechanik eines Gewehrabzugs«.
Nahezu alle genannten Filme sind zwei Vorläufern verpflichtet: der »West Side Story« und dem John-Travolta-Erfolg »Nur Samstag nacht«, dessen -- vergleichsweise arglose -- Brooklyn-Gang ihrerseits mehr mit James Dean zu tun hatte als mit heutigen Getto-Vorbildern.
Das gilt wohl für die Gruppe dieser Filme allgemein. Sie bleiben naiv, steril, sie romantisieren die Aktionen der Gangs und verharmlosen so ihre Gewalttaten (bis auf »Assault«, der sie, umgekehrt, dämonisiert); sie zeigen glamouröse City- und Straßen-Exotik und sparen politische oder soziale Argumente sorgsam aus.
Eine kurze stumme Szene in den »Warriors« zeigt, was und wie diese Filme sein könnten. Erschöpft, dreckig, mit zerrissenen Kleidern sitzen der Bandenführer und seine Freundin in der U-Bahn, gerade noch der Polizei entkommen, als zwei elegante junge Paare, lässig und lustig, zusteigen. Der Blickwechsel -- Scham und Neid und Trotz hier, peinliche Beklommenheit dort -- ist ein beredter Kommentar zum sozialen Hintergrund des amerikanischen Bandenproblems.
Die Frage, ob die Gang-Filme die akute Not von Millionen Jugendlicher nur schnöde ausbeuten oder sie doch, über das attraktive Massenmedium Film, popularisieren, bewußtmachen und zumindest ein kleines Stück ihrer desolaten Realität vermitteln, beantwortet das fast stereotype Selbstverständnis der jungen Gang-ster, wie es sich meist in den Schlußszenen artikuliert: Sie suchen nicht die Alternative, nicht eine Gegen-Gesellschaft, sondern Anpassung und Integration; sie wollen nichts lieber als einen Job, Lohn, Aufstieg, wollen teilhaben am Konsum und dem Getto entkommen.
Die veränderte Situation, die Radikalisierung und die existentielle Katastrophe der Slumbanden in den letzten Jahren macht ein Film bewußt, der wie das liebenswürdige, nostalgische Schlußlicht des Genres wirkt. »The Wanderers« von Philip Kaufman (deutscher Start Ende August) spielt 1963, vor Drogen und Vietnam, vor Watergate und der explosionsartig angestiegenen Jugend-Kriminalität.
Die Teenager in den »Wanderers« sind noch Teenager, ihre Väter dürfen noch autoritär über sie gebieten, ihre komischen Streiche und Bandenkriege haben den Charme augenzwinkernder Verworfenheit. Mit Elvis-Tolle, Kamm im Hosenbund und Zigarette hinterm Ohr kümmern sich die »Wanderers« mehr um ihre sexuellen Nöte als um Raub, Mord und sozialen Aufstieg. »American Graffiti« in der Bronx.
»The Times They Are A-Changin'«, die Zeiten ändern sich. Am Ende des Films, nach dem Kennedy-Mord, singt Bob Dylan über das Ende einer Epoche. An die amerikanischen Politiker gerichtet: »Draußen tobt eine Schlacht, und bald werden eure Fenster und Wände davon erzittern.«