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FILM Liebe stärker als der Tod

Zeruya Shalevs Hörigkeitsballade »Liebesleben« wird von der Schauspielerin Maria Schrader in Israel verfilmt.
Von Henryk M. Broder
aus DER SPIEGEL 3/2006

Es hatte sich schon am Abend zuvor angedeutet, dass es hier in Akko, einer Kleinstadt nahe der libanesischen Grenze, eine Katastrophe geben würde: ein ganzer Drehtag im Eimer, die Hauptdarstellerin erkrankt. Ein Filmteam gestrandet. Man kennt das, aus Filmen von Fassbinder oder von Godard.

Rade Serbedzija, der Kroate, hatte es kommen sehen. »Es war die Salami«, sagt er. »Ich hatte nur eine Scheibe gegessen, und mir war sofort schlecht danach.«

Das Team hatte lange in Uris Kneipe gefeiert. Es gab Fisch, Lamm, Minzeis mit Lachs und viel Wein. Und irgendjemand hatte eine Salami mitgebracht und als Vorspeise verteilt. Shit happens.

Serbedzija sieht wie Maximilian Schell vor 20 Jahren aus, er hat schon mit Clint Eastwood ("Space Cowboys") und Stanley Kubrick ("Eyes Wide Shut") gedreht, in Israel war er noch nie. Gefährliches Pflaster. Araber, Juden, Intifada. Man muss aufpassen, wo man hingeht. Aber in Akko ist es ruhig, zu ruhig.

Und jetzt der GAU: eine schlechte Salami. Die Hauptdarstellerin im Krankenhaus. Dazu Langeweile am Set. Das Leben macht es eben immer verkehrt: Mal ist es zu aufregend, mal ist es zu still.

Rade spielt den Arie in Maria Schraders Film »Liebesleben«. Die Schauspielerin, die mit »Aimée & Jaguar« berühmt wurde, legt ihr Debüt als Regisseurin vor. Sie verfilmt Zeruya Shalevs gleichnamigen Bestseller. Im Drehplan steht eine wilde Szene, ein älterer Mann und eine junge Frau im Rausch der Sinne. Doch nun hängt die Schrader, kettenrauchend und frustriert, in der Etappe herum.

Damit der Tag nicht als Totalschaden abgeschrieben werden muss, wird das Body-Double der Hauptdarstellerin von Tel Aviv nach Akko beordert. Sie heißt wie die Heldin im Roman Ja'ara und sieht der Hauptdarstellerin Neta Garty zum Verwechseln ähnlich. Die gleiche Figur, die gleiche Frisur, der gleiche Gang.

Und so gehen Ja'ara und Rade am Nachmittag händchenhaltend durch die belebten Gassen des »Shuk« von Akko, die Kamera ein paar Schritte hinter ihnen. Es ist nicht das, was sich Maria Schrader für diesen Tag vorgenommen hat, aber besser als nichts ist es allemal.

Es gibt keine bessere Möglichkeit, einem Film die ihm innewohnende Magie zu rauben, als bei Dreharbeiten zuzusehen. Dreharbeiten sind Langeweile pur. Das Gegenteil eines Liebesrausches, das frustrierende Gegenstück der Geschichte, die sie erzählen.

»Liebesleben« handelt von einer jungen Frau, die einem älteren Mann verfällt, einem Freund ihres Vaters und der großen Ex-Liebe ihrer Mutter. Es ist die Geschichte von Hingabe und Unterwerfung, von Lust und Schmerz.

In einzelne Szenen zerlegt wird aus der Höllenfahrt der Gefühle ein Projekt, das etwa drei Millionen Euro kostet und in 38 Tagen realisiert werden muss. Eine deutsch-israelische Co-Produktion, versichert gegen Wetter- und Filmschaden, gegen den Ausfall der Hauptdarsteller und anderes Ungemach.

Das Buch war eine Sensation, es machte die studierte Bibelwissenschaftlerin Zeruya Shalev, die bis dahin nur Gedichte geschrieben und anderer Leute Manuskripte lektoriert hatte, zum Shooting Star der Literaturszene, es wurde in 22 Sprachen übersetzt, darunter Japanisch, Koreanisch und Chinesisch. Allein in Deutschland verkaufte es sich 800 000-mal.

Lauter gute Voraussetzungen für eine Verfilmung, sollte man meinen.

Nicht für Maria Schrader, die Kettenraucherin. »Es ist einfach, aus einem schlechten Buch einen guten Film zu machen. Noch einfacher ist es, aus einem guten Buch einen schlechten Film zu machen. Aber aus einem sehr guten Buch einen guten Film zu machen ...«

Am späten Nachmittag, kurz bevor die Sonne im Hafen von Akko untergeht, kommt Zeruya Shalev, die Autorin, aus Jerusalem angefahren. Sie mag die kleine Stadt am Meer, denn die Altstadt von Akko sieht heute immer noch so aus wie die Jerusalemer »Ira Attika« vor 30 Jahren, die inzwischen zum größten Teil saniert wurde.

Shalev und Schrader kennen sich seit fünf Jahren. Schrader begleitete die Israelin auf ihrer Lesetour durch Deutschland. Sie las aus dem damals gerade erschienenen »Liebesleben«, Shalev beantwortete die Fragen der Zuhörer. Ein Jahr später, in der Berliner Paris Bar, fragte Zeruya Shalev: »Möchtest du nicht die Ja'ara spielen, wenn das Buch verfilmt wird?«

Maria Schrader mochte und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Regisseur. Es dauerte nicht lange, und sie beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. »Ich wusste: Wenn ich es je probieren will, einen eigenen Film zu machen, dann ist das der Stoff!«

Seitdem ist viel passiert, jenseits der Literatur, jenseits des Kinos. Die zweite Intifada, die vor fünf Jahren begann, hat einige tausend Palästinenser und Israelis das Leben gekostet, und dass Zeruya Shalev noch am Leben ist, hat sie nur dem Zufall zu verdanken.

Vor knapp zwei Jahren, Ende Januar 2004, war sie zur falschen Zeit am falschen

Ort. Hinter ihr explodierte ein vollbesetzter Bus, ein Selbstmordattentäter hatte ihn in die Luft gejagt.

Bei dem Terroranschlag starben elf Menschen, Shalev wurde schwer verletzt. »Es war das erste Mal, dass ich dem Tod ins Auge sah.« Sie hatte schon einige Anschläge erlebt, doch diesmal war es anders. Da waren die toten Körper und die blutenden Verletzten, und sie dachte: »Ein Meter weiter, und ich wäre auch tot.«

Shalev lag einige Wochen im Krankenhaus, und als sie dann nach Hause entlassen wurde, fiel sie in eine tiefe Depression. »Wie kann man unter solchen Umständen schreiben? Wer interessiert sich für Literatur, wenn um dich herum Menschen zerfetzt werden? Wer interessiert sich für Liebesgeschichten?«

Ihr Mann besorgte ihr einen Laptop, damit sie auch im Bett arbeiten konnte. Zunächst erfolglos. »Es ging nicht. Ich wollte mich nicht mit Schreiben therapieren.«

Shalev wartete sechs Monate, dann ging sie in ihr Arbeitszimmer runter, setzte sich an den Computer und fing wieder an zu schreiben. Erst eine Stunde pro Tag, dann zwei, dann mehr. Jetzt »funktioniert« sie wieder, aber sie verlässt ihr Haus im Zentrum von Jerusalem »nur, wenn es unbedingt sein muss«; knallt es auf der Straße, oder klingelt das Telefon zu laut, dann zuckt sie zusammen. Das Busfahren hat sie schon vor fünf Jahren, zu Beginn der Intifada, aufgegeben. Wenn sie heute mit ihrem Wagen zwischen zwei Busse gerät, fängt sie sofort an zu schwitzen. »Aber sonst geht es mir gut.«

Sie denkt wieder tagelang über ein Wort oder ein Komma nach. Und damit keiner auf falsche Gedanken kommt, stellt sie immer wieder klar: »Ich schreibe nicht über mein Leben. Mein Schreiben reflektiert die Welt, in der ich lebe.« Und diese Welt ist ein Supermarkt der Katastrophen, die meisten spielen sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Hinter der Fassade von Stille und Langeweile. »Meine Geschichten sind wahr, nur die Figuren sind erfunden.«

Zeruya Shalev sitzt mit Maria Schrader im Hafen von Akko, zwei reife Mädchen, die wie Teenager schnattern und kichern. Ja'ara, das Body-Double der Hauptdarstellerin, läuft am Pier auf und ab. In einer halben Stunde wird es dunkel, bis dahin muss die Szene abgedreht sein. Danach geht es wieder zu Uri zum Essen. Maria Schrader weiß schon, was sie bestellen wird: Jakobsmuscheln in Sahnesauce, garantiert unkoscher. Morgen hat das Team drehfrei.

Noch sieben Drehtage, dann ist es geschafft. »Es ist schön, in der Mitte des Lebens ein blutiger Anfänger zu sein.«

Und noch schöner ist es, nichts Aufregenderes erlebt zu haben als eine verdorbene Salami. HENRYK M. BRODER

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