Zur Ausgabe
Artikel 90 / 119

LITERATUR Liebe zu Zeiten der Kohl-Ära

Der mit mehreren Kleinkunstpreisen ausgezeichnete Autor und Entertainer Frank Goosen erweist sich in seinem Debüt »Liegen lernen« als großes Erzähltalent. Von Thomas Brussig
Von Thomas Brussig
aus DER SPIEGEL 5/2001

Brussig, 35, lebt als Autor in Berlin und wurde mit dem Roman »Helden wie wir« (1995) bekannt; der Stoff seines Buchs »Am kürzeren Ende der Sonnenallee« (1999), Szenen einer Jugend in der DDR, wurde von Leander Haußmann erfolgreich verfilmt. Goosen, 34, wird seinen Roman »Liegen lernen« am 2. Februar in Berlin vorstellen. -------------------------------------------------------------------

Eines der anmaßendsten Vorurteile über die junge deutsche Gegenwartsliteratur lautet, dass die interessantere Literatur im Osten geschrieben würde und dass das auch so sein müsse, weil Untergang, Umbruch und Neubeginn sowie die Erfahrung und Verarbeitung des Realsozialismus Stoff in Hülle und Fülle bieten.

Wahr daran ist nur, dass für die Autoren aus dem Osten tatsächlich Stoff in Hülle und Fülle vorhanden ist, und wahr ist leider auch, dass viele westdeutsche Autoren meiner Generation lieber danach trachten, einen literarischen Anspielungskosmos zu beherrschen, als Erfahrungen weiterzugeben - so als glaubten sie selbst an die Lügen, die sie über sich verbreiten: nämlich, dass sie keine Erfahrungen gemacht hätten, die sich weiterzugeben lohnten.

Sicher haben diese Autoren andere Voraussetzungen beim Herstellen ihrer Bilanzliteratur: Für sie ist das Heutige nur eine Verlängerung des Damaligen, das mehr oder weniger ungebrochen gültig ist. Eine Zäsur gab es nie; nur einen Wechsel der Moden und Trends, und 16 Jahre lang wechselte nicht mal der Bundeskanzler.

»Eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart sammelt und stapelt sich von selbst herum um mich, während ich durch die Gegend fahr«, dichtete Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer schon 1994. Aber es gibt sie, die »eigene Geschichte«. Der sie geschrieben hat, heißt Frank Goosen, ist Jahrgang 1966 und stammt aus dem tiefsten Westen - aus dem Ruhrpott. Nach dem Abi studierte er Geschichte und Germanistik, begann dann aber eine recht erfolgreiche Karriere in der Kleinkunstszene: Mit einem Partner, dem Buchhändler Jochen Malmsheimer, erfand er »Tresenlesen«, eine literarische Nummernrevue, die auch in Kneipenatmosphäre bestehen können sollte.

Beide setzten auf komische Texte, und mit einem Vortragsstil, der noch die meisten Schauspieler in den Schatten stellte, kam der Erfolg: mehrere Kleinkunstpreise, Kultstatus im Ruhrpott, insgesamt fünf CDs und über tausend Auftritte, in die sich mehr und mehr eigene Texte mischten. Im Herbst 1998 trat Frank Goosen auch mit einem Soloprogramm auf.

Wenn einer mit einem Buch herauskommt, der in über tausend Auftritten die Säle auf Teufel-komm-raus zum Lachen bringen wollte, muss der Leser erst mal befürchten, dass ihm kein Gag, kein Kalauer erspart wird und dass ihm eine Unmenge Formulierungen nur um ihrer selbst willen unter die Nase gerieben wird. Weil der Autor glaubt, er wisse, wie es geht. Was auf der Bühne so prima klappt, funktioniert doch auch auf dem Papier.

Irrtum, »Liegen lernen« ist kein Trash-Buch. Schon nach wenigen Seiten wird klar: Goosen schreibt, weil sich das, was er zu sagen hat, eben nicht im krachledernen »Tresenlesen«-Stil sagen lässt**. Besagte »eigene Geschichte« wird auch nur bis zu einem gewissen Punkt verfolgt. Goosens Milieu der letzten Jahre, die Kleinkunst-szene, wird nicht mal gestreift. Goosen verfolgt autobiografische Spuren, vermag sich aber von den Fakten zu entfernen.

Die Handlung setzt wenige Wochen vor Kohls Kanzlerschaft ein und endet wenige Wochen vor deren Ende - vielleicht hat Goosen seinen Helden deshalb kurz entschlossen Helmut genannt. Am Anfang ist Helmut ein schüchterner 16-Jähriger aus dem Ruhrpott, der in Panik gerät, wenn er mit seiner Angebeteten allein in einem Zimmer ist, am Ende, mit Anfang 30, entscheidet er sich für etwas Dauerhaftes.

Was ist daran außergewöhnlich? Nichts. Und warum sollte man es dann lesen? Eben darum. Der Roman »Liegen lernen« erinnert stark an die Bücher Nick Hornbys. Wie der Brite bedient sich auch Goosen eines schnörkellos-lakonischen und dennoch herzlichen Tonfalls ohne aufgesetzte Coolness.

Helmut ist das einzige Kind eines Bahnhofsvorstehers und einer Hausfrau - Prototypen des unbescholtenen Bürgers. Wie die meisten Eltern wünschen sich auch Helmuts Eltern nichts mehr als ein Kind nach ihrem Bilde, und als Helmut auf einem Geburtstag vom Nazi der Familie vertrauensvoll beiseite genommen wird, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als zu bestätigen, dass er keine Drogen nimmt, noch nie »auf so einer Demonstration« war und hoffentlich »keine Schwuchtel werden will«. Helmuts resignierendes Fazit: »Ich war der drogenabstinente, heterosexuelle Nichtdemonstrierer, die große weiße Hoffnung der Familie, des ganzen Landes.«

Aber eigentlich ist er ganz anders, denn sein Herz schlägt für Britta, die neue Schülersprecherin. Eine in Latzhosen, politisch engagiert in Öko-AG, Anti-Atomgruppe und dem Arbeitskreis Nicaragua. Britta spricht ihre Eltern, die in einer ausgebauten Scheune wohnen und sogar nachmittags Sex haben, mit dem Vornamen an. Da prallen Welten aufeinander - wobei »prallen aufeinander« nicht stimmt, denn für Helmut ist alles, was

von Britta kommt, die Offenbarung. Und so fügt sich Helmut auch widerspruchslos in Brittas Forderung, dass alles, was zwischen ihnen läuft - die Treffen, die Küsse, der Sex, alles, was Helmut sich wünscht und alles, was er fühlt -, geheim bleiben möge. Ausgerechnet dieses progressive, aufgeklärte, freie 68er-Kind Britta greift zur doppelten Moral und zu spießigen Lügen, doch Helmut kann vor lauter Glück gar nicht erkennen, was da mit ihm gespielt wird.

Dann geht Britta für ein Jahr in die USA. Auch dafür, dass es ausgerechnet die USA sind, hat Britta eine Begründung, die Helmut akzeptiert. Sein Herz schlägt weiterhin kraftvoll für Britta, auch wenn sie auf seine Briefe kaum antwortet. Erst spielt sie ihre gemeinsame Beziehung herunter, dann lässt sie etwas von einem gewissen Greg durchblicken. Als Britta wieder zurück ist, bleibt Helmut von ihr abgeschnitten. Brittas ach so lockere Mutter ist nicht locker genug, Brittas neue Adresse herauszurücken.

Doch die ersten 100 Seiten erzählen nicht nur von erster Liebe - sie handeln von Jugend zu Beginn der achtziger Jahre überhaupt. Von der Musik und den Momenten, die einen prägten, die man nie vergisst. Goosen schildert, wie es war, als alle »Hungry Heart« mitsangen. Oder als man eben noch mit den stockreaktionären Verwandten auf Familienfeiern herumsaß, und es dann mit dem progressiven Geschichtslehrer auf Berlin-Klassenfahrt ging. Da stand man am Brandenburger Tor, wanderte durch Ost-Berlin und musste sich mit seinen 16 Jahren einen Reim darauf machen.

»Die achtziger Jahre waren keine gute Zeit, um erwachsen zu werden«, schreibt Goosen. »Auf den Illustrierten waren entweder nackte Frauen oder Atompilze, manchmal beides, und man wusste nicht, was schlimmer war.« Nein, es sind nicht die Pointen und das prononcierte Erzählen allein, was dieses Buch so schön macht. Der Roman kündet von Erfahrungen, die viele gemacht haben. Jeder erlebte sie, die eine unvergessliche Klassenfahrt. Wer »Liegen lernen« liest, dem steigen die eigenen Erinnerungen auf. Und siehe da: Es war alles genau so - nur ganz anders.

Wie kann man hinnehmen, dass man einem Menschen, der einem fast alles bedeutet, fast nichts bedeutet? Helmut ist jahrelang von Britta besetzt. Daran ändern auch nichts die Erfahrungen, die er mit anderen Frauen macht. Davon im Wesentlichen handeln die übrigen 200 Seiten - und da ist keine Seite zu viel. Es geht um Lügen, Liebeskummer, Verletztheiten, Sehnsüchte - und immer wieder ums Erwachsenwerden. Das, so haben Sozialwissenschaftler verkündet, werde heute erst mit Anfang 30 vollendet: »Liegen lernen« wiederholt diese These in einer romanhaften Form, nur hundertmal komischer und warmherziger.

Dieses Buch kommt genau aus der sagenumwobenen »neuen Mitte«, und es geht um die Fragen der, nein, nicht der trendy-synthetischen »thirtysomethings«, sondern der echten »Um-die-30«. Zum Beispiel: Wieso beginne ich ausgerechnet meinen Eltern immer mehr zu ähneln? Oder: »Was war mit dem Herzklopfen passiert?« Oder dass man sich nach über drei Jahren Zusammenseins schließlich fragen lassen muss: »Willst du richtig hier sein oder nicht?« Was im Klartext heißt: »Nie wieder eine andere. Nie wieder andere Hände, andere Augen, andere Brüste, andere Arschbacken, nie wieder ein anderes weibliches Geschlechtsteil, ach sagen wir es doch, wie es ist: nie wieder eine andere Möse.«

Der Roman »Liegen lernen« widmet sich den Fragen, die irgendwann für jeden eine Relevanz haben: Heiraten oder nicht? Und was ist mit Kindern? Goosen ist konzentriert bei der Sache, hat überhaupt eine Liebe fürs Konkrete. So wird die Musik der achtziger Jahre ausführlich zitiert: Madness, Fisher-Z, Bruce Springsteen, Barclay James Harvest, Bob Dylan.

Gibt es ein Wiedersehen zwischen Helmut und Britta? Natürlich. Aber da ist Britta kaum wiederzuerkennen. Trotzdem ist er ihr sofort wieder verfallen. Und wenn er zehnmal auf seinen Bedürfnissen sitzen bleibt. Dagegen ist einfach kein Kraut gewachsen.

So finden sich im Roman eine Unmenge wahrhaftiger Szenen. Nur manchmal greift Goosen zu Versatzstücken - doch die sind nicht besonders lästig: Goosens Debütroman hat Poesie, Romantik, Sentiment, Zärtlichkeit, ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren.

Goosen erzählt fesselnd, mitreißend, klar, beobachtet präzise und versteht eine Menge davon, wie man Lust erzeugt. Er muss seinen Helden nicht ans andere Ende der Welt schleppen, um ihn einer Exotik auszusetzen; Berlin ist exotisch genug, wenn man nur die Augen aufmacht. Indem Goosen stellvertretend für viele erzählt, was viele erlebt haben - WG, Uni-Milieu, Einrichten, Verbürgerlichung -, erspürt er auch den Reichtum zahlloser Existenzen.

Und man kann sein Buch lesen, wie man will: als Zeitreise in die Kohl-Jahre, als Erfahrungsbericht einer Mannwerdung, als Generationenbuch, als Liebeserklärung an die Liebe.

Frank Goosen widerlegt mit »Liegen lernen« gleich drei gängige Meinungen: Dass Westdeutsche nichts zu erzählen hätten, dass deutsche Autoren nicht zu rühren verstünden - und dass man nach dem letzten Hornby nur schicksalsergeben auf den nächsten Hornby warten müsse, da niemand sonst so schreibe wie er.

* Mit Ehefrau Hannelore 1994 am Wolfgangsee.** Frank Goosen: »Liegen lernen«. Eichborn Verlag, Frankfurt amMain; 300 Seiten; 39,80 Mark.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 90 / 119
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten