PHILOSOPHEN / RUSSELL Liebe zur Geometrie
Über ein Jahrzehnt verbarg der Londoner Verleger Sir Stanley Unwin im Tresor seines Büros in der Museum Street ein etwa 390 Seiten langes Manuskript. von dem er wußte, daß es ein Bestseller sein könnte: die Lebensbeichte eines der bekanntesten Philosophen des 20. Jahrhunderts und dennoch ein mit geradezu peinlicher Pedanterie verfaßter Schocker.
Doch Sir Stanley hatte dem Autor versprochen, die freimütigen Bekenntnisse erst nach dessen Tod zu veröffentlichen.
Als aber der Verfasser der Geheimpapiere bei bester Gesundheit sein 95. lebensjahr begann, wollte Unwin zumindest mit der Veröffentlichung des ersten Bandes nicht länger warten: »Er hat«, klagte er, »jetzt so lange gelebt, und die meisten Leute. die in seinem Buch vorkommen, sind bereits tot.«
Das Argument überzeugte schließlich auch den Autor: Bertrand Arthur William dritter Earl Russell, Philosoph, Mathematiker. Essayist, Nobelpreisträger. Pazifist und Rebell.
Und so erschien in diesem Frühjahr in einer Auflage von 70 000 Exemplaren der erste Memoiren-Band des streitbaren Lords*. Die Veröffentlichung des zweiten Bandes hat Russell seinem Verleger vorerst verboten.
Wie kein anderer Denker dieses Jahrhunderts hat Russell die Schwächen, Irrtümer und Gefahren gültiger Meinungen und politischer Realitäten bloßgelegt, hoffend, der Siegeszug der menschlichen Vernunft sei nicht mehr aufzuhalten. Russell: »Wenn nicht heule, so nach dem nächsten Krieg.«
Dabei handelte er sich nicht nur berufliche Nachteile, sondern auch Gefängnisstrafen ein. So saß er noch 1961 -- im Alter von 89 Jahren -- sieben Tage im Gefängnis, weil er an einer Sitzdemonstration gegen die atomare Aufrüstung auf dem Londoner Trafalgar Square teilgenommen hatte.
Angesichts des spektakulären Philosophen-Lebens hatten schon Monate
* The Autobiography of Bertrand Russell. 1872-1914«. George Allen and Unwin Ltd.. London: 232 Seiten 42 Shilling.
vor Erscheinen des Russell-Buches Verleger aus aller Welt in der Londoner Museum Street ihre Kaufordern für die Enthüllungen des adligen Denkers abgegeben.
Für die Rekordsumme von 72 000 Pfund (über 800 000 Mark) transferierte schließlich der amerikanische Verlag Atlantic-Little, Brown and Company die 230 Druckseiten der Memoiren über den Ozean. Die Rechte für eine deutschsprachige Ausgabe erwarb der Züricher Europa-Verlag zu einem strenggehüteten Preis, und Verleger aus Mailand, Paris, Madrid und Stockholm haben bereits die Rechte für ihre Länder eingehandelt.
Tatsächlich durften sie nach Lektüre der ersten Manuskriptseiten überzeugt sein, einen Bestseller-Anwärter erworben zu haben. Denn schon im »Prolog« seines Buches kündigt der Lord an, was der Leser zu erwarten hat.
Drei »überwältigende Leidenschaften«, so bekennt er, haben sein Leben beherrscht: »das Verlangen nach Liebe, das Streben nach Erkenntnis und das Erbarmen mit der leidenden Menschheit«.
Viermal verheiratet -- drei Ehen wurden geschieden, und im Alter von 80 Jahren heiratete er seine vierte Frau, die amerikanische Schriftstellerin Edith Finch -, konzentriert sich der Don Juan mit der Liebe zur Geometrie in seinen veröffentlichten Erinnerungen allerdings nur auf zwei Leidenschaften: Liebeslust und Wissensdurst.
Sohn eines freidenkerischen Lords -- er verlor seinen Parlamentssitz, weil er, für das viktorianische England skandalös, öffentlich die Geburtenkontrolle befürwortet hatte -- und einer adligen Frauenrechtlerin, verbrachte Russell seine ersten Lebensjahre in der manchmal grotesken Atmosphäre seines skurrilen Elternhauses.
So hatten zum Beispiel die Eltern dem tuberkulösen Hauslehrer von Russells älterem Bruder verboten, zu heiraten. Sie wollten nicht, daß er Kinder zeuge und diesen die Krankheit vererbe. Gleichwohl empfanden sie das Verbot als unfair, und Russells Mutter milderte das Zölibat, indem sie dem Hauslehrer erlaubte, bei ihr zu schlafen.
Als Russell zwei Jahre alt war, starb die Mutter, ein Jahr später auch der Vater. Die beiden Kinder vermachte Vater Russell dem kranken Hauslehrer und einem radikalen Atheisten namens Cobden Sanderson, unter der Bedingung, sie »vor den Übeln einer religiösen Erziehung zu bewahren
Mit Erfolg opponierte Russells gläubiger Großvater, der liberale Politiker Lord John Russell, gegen den Letzten Willen seines versponnenen Sohnes. Die beiden Kinder wurden schließlich unter die Vormundschaft des Londoner Kanzleigerichts gestellt; Bertrands Erziehung wurde den Großeltern übertragen.
Von dem viktorianischen Lebensstil seiner Großeltern, besonders den strengen moralischen Ansichten der Großmutter, fühlte sich der Knabe angezogen und zugleich abgestoßen. Um die zahlreichen Verbote zu umgehen, gewöhnte er sich daran, seine Umgebung zu täuschen -- ein Charakterzug, von dem er selbst bekennt, er habe ihn bis zu seinem 21. Lebensjahr beherrscht.
Gerade elf Jahre alt, entdeckte Russeil sein Interesse und seine Begabung für die Mathematik. Unter Anleitung seines Bruders erlernte er die Geometrie. Fast zur gleichen Zeit wurde er von einem Freund sexuell aufgeklärt. Russell heute: »Was er erzählte, fand ich sehr interessant, obgleich ich keinerlei Erregung dabei fühlte.«
Gleichwohl beeindruckte ihn die kindliche Einweihung in das Liebesleben so sehr, daß er in diese Zeit seine Erkenntnis datiert, freie Liebe sei das einzig Vernünftige und die Ehe nichts anderes als ein Ausdruck christlichen Aberglaubens.
Fortan galt Russells Interesse laut eigenem Bekenntnis der Mathematik gleichermaßen wie dem Sex. Seine bevorzugte Lektüre war ein medizinisches Wörterbuch. Gemeinsam mit einem Freund baute er einen ganzen Winter lang an einer Höhle, in der er sich dann mit einer Hausangestellten vergnügte. Erst als sich das Mädchen weigerte, eine Nacht mit ihm zu verbringen, endete das erotische Abenteuer.
Seit 1890 studierte Russell in Cambridge Mathematik und Philosophie. Dort lernte er den elf Jahre älteren Alfred North Whitehead kennen, für den so wie für Russell die Mathematik das Ideal der Philosophie war.
Acht Jahre lang, von 1902 bis 1910, arbeiteten Russell und Whitehead gemeinsam an einem der bedeutendsten Werke des europäischen Geisteslebens, den »Principia mathematica« ("Prinzipien der Mathematik"), die Russell den Ruf eines Begründers der modernen Logik einbrachten.
Noch beute -- über fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen -- gelten die »Principia mathematica« als das Standard-Werk der modernen Logik.
Angeregt durch seine Studien über den deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) und den »Jenaer Mathematiker Gottlob Frege (1848 bis 1925), die eine Synthese von Mathematik und Logik postuliert hatten, versuchte Russell, gemeinsam mit seinem Freund Whitehead, die gesamte Mathematik aus einigen logischen Axiomen abzuleiten.
Im gleichen Jahre, in dem Russell sein Studium in Cambridge begann, lernte er die Tochter eines amerikanischen Quäkers, Alys Pearsall Smith, kennen. Fasziniert von der natürlichen Selbständigkeit der jungen Amerikanerin, die für ihn so ganz anders war als die schüchternen englischen Mädchen, verliebte er sich in die »anmutige Quäkerin« und beschloß, sie zu heiraten.
Seine adlige Verwandtschaft versuchte mit ausgefallenen Tricks, eine Ehe zwischen dem jungen Studenten und der, wie sie meinten, »gewöhnlichen Abenteurerin und Kindsräuberin« zu verhindern.
So brachten sie den alten Familienarzt dazu, dem liebestollen Mathematiker einzureden, in Russells Familie seien zahlreiche Fälle von Geisteskrankheit aufgetreten. Würde er heiraten und Kinder zeugen, müßte er damit rechnen, daß sie nicht normal sein würden.
Als das Pärchen daraufhin beschloß, gleichwohl zu heiraten, aber keine Kinder zu haben, wurde der alte Familiendoktor erneut in Marsch gesetzt. Der Gebrauch von Verhütungsmitteln« drohte der Arzt nun, schade der Gesundheit, und Russells Familie fügte dem ärztlichen Verdikt hinzu: Auch Vater Russell habe Verhütungsmittel benutzt und sei deshalb an Epilepsie erkrankt.
Schließlich schickten sie den damals 22jährigen nach Paris, hoffend, er werde dort Alys vergessen.
Drei Monate später war Russell aber wieder in London, wo er am 13. Dezember 1894 mit Alys im Quäker-Ritus getraut wurde.
Mit seiner Heirat begann eine Periode fruchtbaren Schaffens. Frei von »emotionellen Hemmungen« (Russell), konnte er sich ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit widmen.
In ununterbrochener Folge veröffentlichte er philosophische und mathematische Untersuchungen sowie, als Ergebnis eines Aufenthalts in Berlin, eine Studie über die deutsche Sozialdemokratie, über die er damals schrieb, sie sei eine der revolutionärsten sozialen Bewegungen Europas.
1910 hatte er mit Whitehead das dreibändige Monumentalwerk »Principia mathematica« beendet, und Russeil hatte das Gefühl, als komme er endlich aus einem Gefängnis« frei.
Die gemeins me Arbeit mit Mathematiker-Kollege Whitehead hatte Russells Leidenschaft für abstraktes Denken vorerst gestillt. Sein »Verlangen nach Liebe, vermochte Ehefrau Alys nicht mehr zu befriedigen. Nach 16 Ehejahren entdeckte Hussell: Sie ist eine Spießbürgerin, die nur »Nachthemden aus Flanell« trägt.
Dafür fand der liebeshungrige Denker bei Lady Ottoline Cavendish-Bentinck, der Frau des liberalen Politikers Philip Morrell, den Russell im Wahlkampf des Jahres 1910 unterstützt hatte, Erholung vom häuslichen Flanell.
Fast sechs Jahre lang -- die Ehe mit Alys wurde 1921 geschieden -- bestand das Liebes-Dreieck Lady Ottoline, Ehemann Morrell und Herzensfreund Russell alle Fährnisse.
Sogar als sich Russell während eines Amerika-Aufenthalts in die Tochter eines Gynäkologen verliebte ("Ich verbrachte zwei Nächte im Haus ihrer Eltern, die zweite Nacht mit ihr"), blieb es beim alten Dreibund.
Über den 28. Juli 1914 -- mit diesem Jahr endet Russelis erster Memoiren-Band -- notiert der Autor: »An diesem Tag erklärte Österreich Serbien den Krieg. Ottoline gab ihr Bestes.«