10 Jahre Poetry Slam Hier spricht der Dichter!

Rockkonzert trifft Kindergeburtstag: Was vor zehn Jahren in einer Münchner Kneipe begann, hat sich inzwischen als Massenbewegung in über 50 deutschen Städten etabliert: Poetry Slams und Lesebühnen dienen Amateur-Dichtern und Literaturprofis gleichermaßen als Selbstdarstellungs-Arena.
Von Verena Carl

Vor ziemlich genau zehn Jahren war Jaromir Konecny dem Ruhm schon einmal verdammt nah. Der Rundfunkjournalist Karl Bruckmaier hatte in der Münchner Punk-Kneipe "Substanz" zum "Poetry Slam" geladen. Das neueste Ding aus den USA, ein Wettbewerb für Dichter und Storyteller in Club-Atmosphäre - und Konecny mittendrin. Statt bräsiger Literaturpäpste sollte eine willkürlich zusammengewürfelte Publikumsjury den Sieger bestimmen, mit Noten von null bis zehn, wie beim Eislaufen. Lesezeit: maximal zehn Minuten.

Bis zum letzten Moment lag der gebürtige Tscheche in Führung. "Ich dachte, wenn ich das hier gewinne, bin ich ein gemachter Mann", erinnert sich der heute 48-Jährige. Aber dann schnappte ihm der letzte Kandidat die Siegerprämie, eine Flasche billigen Whisky, vor der Nase weg - ein Deutsch-Türke wurde der erste Münchner Slam-Champion.

Wenn Konecny sprachlos war, dann höchstens für einen Moment. Seit damals hat er, der auf der Bühne selbstironisch mit seiner tschechische Umlaut-Schwäche kokettiert ("Ich lebe in der Alfred-Deblin-Straße in Minchen") unzählige Slams in ganz Deutschland gewonnen und den Spoken-Word-Trend sogar in sein Herkunftsland exportiert - 2004 gab es das erste Wettlesen am Wenzelsplatz in Prag.

Massenbewegung in der Nische

Was 1994/95 eher unscheinbar begann, ist mittlerweile so etwas wie eine Massenbewegung in der Nische geworden: Derzeit veranstalten rund 50 Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz monatliche Poetry Slams, von Metropolen wie Berlin bis zu Kleinstädten wie Oldenburg, Innsbruck und St. Gallen. Hunderte von Zuschauern sind keine Seltenheit. Bei den jährlichen Meisterschaften (dieses Jahr Ende Oktober in Leipzig) treten mittlerweile 80 bis 90 Einzelkämpfer und etwa 25 Städte-Teams an.

Parallel dazu ist auch die Zahl der "Lesebühnen" explodiert: Allein in Berlin gibt es derzeit zwölf regelmäßige Clubabende für Selbstgeschriebenes. In Hamburg nehmen Fans gar die Anfahrt ins abgelegene Viertel Hasselbrook in Kauf, um sich beim "KaffeeSatzLesen" zutexten zu lassen. Auch dieser Trend ist in der Provinz angekommen: Als kürzlich die Dichtergruppe "Texteratur" im "Club Orange" im westfälischen Herford (62.000 Einwohner) auftrat, mussten wegen des großen Andrangs Stühle aus dem Wettbüro nebenan organisiert werden.

Kampfdichtung mit Kampfgesängen

Die Bewegung wurde schnell ein Auffangbecken für verkrachte Dichter-Existenzen. Dank des demokratischen Prinzips solcher Veranstaltungen durfte jeder auf die Bühne, auch ohne Suhrkamp-Verlagsvertrag und "Zeit"-Rezensionen. Großstädte wie München und Düsseldorf adaptierten die Slam-Spielregeln, die sich der ehemalige Bauarbeiter Marc Smith aus Chicago 1986 ausgedacht hatte; Lesebühnen entstanden vor allem in der damals neuen Hauptstadt Berlin.

Nach der "Höhnenden Wochenschau" des "taz"-Kolumnisten Wiglaf Droste eröffnete im Januar 1995 die "Reformbühne Heim & Welt", wo Newcomer wie Jakob Hein ("Mein erstes T-Shirt") und Wladimir Kaminer ("Russendisko") ihre ersten öffentlichen Vorlese-Versuche machten. Bier statt stilles Wasser, Alltags-Texte statt hermetischer Lyrik - das kam auch bei Leuten an, die bei Buchhandlungs-Lesungen vor Langeweile vom Klappstuhl kippten.

In Hamburg luden die Studenten Michael Weins und Alexander Posch Dichter und Bands zum "La Ola"-Lese- und Musikclub und veranstalteten die "Hamburger Dichterschlachten". Dort trat der "HSV" (Hamburger Schriftsteller-Verein) gegen die "Alster Allstars" an, Bands begleiteten die Kampfdichtung mit Kampfgesängen. Plötzlich ging man nicht mehr "zu einer Lesung", sondern "auf eine Lesung" - so wie man "auf ein Konzert" ging.

Es war das richtige Konzept zur richtigen Zeit. 1995 nahmen Musiker wie Eric Clapton plötzlich "Unplugged"-Alben auf, Bands wie die Fantastischen Vier, Fettes Brot und Blumfeld entdeckten Deutsch als poptaugliche Sprache, und ein neuer Frauentyp namens "Girlie" stiefelte in unförmigen Boots, Karohemd und Minirock durch die Fußgängerzonen der Republik. Zwischen der Oberflächen-Besessenheit der Achtziger und der Geldgeilheit der späten Neunziger gab es jene Atempause, in der authentische Raubeinigkeit das Ticket zum Erfolg war - wenigstens in der studentisch geprägten Großstadtszene.

Lagerfeuer der Jugendbewegung

Wenn MTV das Kaminfeuer dieser Jugendbewegung war, dann waren Slam und Lesebühne ihr Lagerfeuer: ein Ort für Texte von Grunge-Hymnen, Texte über zu viel Bier und zu wenig Sex oder umgekehrt; Hauptsache: laut und versaut. Die Bühnen-Stars waren die Sex Pistols der Literatur. Und das Publikum spielte Richter Gnadenlos: Vor allem die Hamburger buhten missliebige Dichter von der Bühne des Schanzenviertel-Clubs "Fool's Garden", lange bevor ihr Zeitlimit überschritten war.

In einem Jahrzehnt Bühnengeschichte(n) haben sich die Wogen geglättet, die Mitspieler sind professioneller geworden, die Texte vielfältiger: ein bisschen HipHop, ein bisschen Comedy - und in den letzten Jahren zunehmend politische Texte, wie sie auch in den USA die Bühne dominieren. "Der 11. September 2001 hat auch den Slam verändert", sagt Hartmut Pospiech, Slam-Veranstalter im "Fools Garden".

Die Rotzigkeit der frühen Jahre

Dennoch prägt die Rotzigkeit der frühen Jahre noch immer das Image der Bühnenlesungen - wohl ein Hauptgrund dafür, dass sich so selten Frauen vortrauen. Ein Dichterinnen-Alptraum: öffentlich sein Herz ausschütten, während die eine Hälfte des Publikums "Ausziehen!", die andere "Aufhören!" brüllt. "Männer sehen das sportlicher", glaubt der Leipziger Veranstalter Martin Wolter, "die trinken vorher drei Bier, und wenn der Auftritt in die Hose geht, können sie auch damit leben."

Für eine Überraschung sind die wenigen Frauen in der Szene aber allemal gut: Etta Streicher zum Beispiel, die mit ihrem Wohnwagen von Bühne zu Bühne reist. Oder Nina Jäckle: Die damals noch unbekannte Autorin brachte 1998 das pöbelnde Münchner Publikum mit Prosa-Miniaturen zum atemlosen Schweigen und überflügelte damit eine ganze Schar testosteronstrotzender Jungdichter. Heute ist sie mit ihren Erzählungen ("Es gibt solche") und ihrem Roman ("Noll") zur ernst zu nehmenden literarischen Stimme avanciert.

Off-Literatur als Probebühne und Sprungbrett - diese Gleichung geht nicht immer, aber immer wieder auf. Neben dem allgegenwärtigen Wladimir Kaminer wurden in Berlin auch Ahne und Bov Bjerg für den Buchmarkt entdeckt. Der Langzeit-Slamstar Bas Böttcher wird seit Jahren als Literaturbotschafter des Goethe-Instituts bis nach Peru und Kanada verschickt, 2004 erschien sein erster Roman "Megaherz".

Der Trend geht zur Subkultur-Collage

Umgekehrt flirten auch Feuilleton-Lieblinge gerne mit der Club-Bühne: Michael Lentz ("Muttersterben") gewann 1998 die deutsche Slam-Meisterschaft, 2000 den Ingeborg-Bachmann-Preis. So schließt sich die Kluft zwischen Underground und Kulturbetrieb.

Im Malersaal des Schauspielhauses zu Hamburg wurde indes im letzten Jahr ein literarisches Gaga-Event mit Namen "Schischishow" zum Publikumsrenner: Am eigens aufgeschüttetem Sandstrand ließen die Moderatoren Schriftsteller wie John von Düffel im Planschbecken vortragen, Autor Stefan Beuse las vom Bademeister-Hochsitz herab, dazwischen schrammelten Hamburger Bands. Klingt vertraut? Kein Wunder: Die ehemaligen "La Ola"-Macher Michael Weins und Alexander Posch führten gemeinsam mit Sven Amtsberg Regie beim texlich-musikalischen Crossover. Der aktuelle Trend geht also zur Subkultur-Collage: Alles eine große Kindergeburtstagsfeier - und ein Ende ist nicht in Sicht.


Verena Carl lebt als freie Journalistin und Schrifstellerin in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte sie gemeinsam mit Tanja Dückers das Generationen-Buch "Stadt Land Krieg" (Aufbau Verlag)

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