
Abdulrazak Gurnah Hat die Identitätspolitik ihren ersten Nobelpreis?


Nobelpreisträger Gurnah: »Kompromisslose und mitfühlende Durchdringung der Folgen des Kolonialismus«
Foto: HENRY NICHOLLS / REUTERSDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Dass die Nobelpreise an Autorinnen und Autoren vergeben werden, die keiner kennt, ist ein Witz, der so alt und schal ist wie der Nobelpreis selbst. Oft genug täuscht er nur über die Lektüre- und Denkfaulheit von Kritikerinnen und Kritikern hinweg, die einfach nur mit ihren Lieblingen zusammen ausgezeichnet werden wollen.
Jetzt stimmt es ausnahmsweise mal. Zumindest für den deutschen Sprachraum. Als Mats Malm, der Sprecher der Schwedischen Akademie, um 13 Uhr verkündete, Abdulrazak Gurnah werde den Nobelpreis für Literatur bekommen, gab es kein Buch von ihm auf Deutsch zu kaufen. Die Romane, die es auf Deutsch gibt, sind vergriffen, auch antiquarisch, zumindest bei den großen Anbietern wie Amazon. Es gibt Gurnah nicht auf dem deutschen Buchmarkt. In anderen Ländern dürfte es ähnlich sein.
Genau das ist der Sinn des diesjährigen Nobelpreises. Er handelt von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit.
Denn wenn man genau hinhörte bei der Begründung für die Preisverleihung, tauchte immer wieder ein Begriff auf, der in der akademischen Debatte der vergangenen Jahre häufig gefallen ist, den aber mit Inhalt zu füllen oft schwierig ist, weil den Menschen in der westlichen Welt oft das Anschauungsmaterial fehlt: der Postkolonialismus.
Gurnah bekomme den Preis für seine »kompromisslose und mitfühlende Durchdringung der Folgen des Kolonialismus und des Schicksals von Flüchtlingen zwischen Kulturen und Kontinenten«, heißt es in der Begründung der Akademie. Was bedeutet: Der Postkolonialismus hat seinen ersten Nobelpreis bekommen.
Und mit Abdulrazak Gurnah hat es den Richtigen getroffen.
Migration als Lebensthema
Denn worum geht es im Postkolonialismus? Weniger um die politische Macht des Westens über den sogenannten globalen Süden. Sondern vor allem um das Fortleben der Machtstrukturen in den Köpfen und in den Herzen der Menschen, im Süden wie im Norden. Um die Schwierigkeiten, sich selbst als Subjekt zu begreifen – weil der Boden, auf dem man zu stehen glaubt, sich bewegt. Oder weil man flüchten muss, weil der Boden keine Sicherheit gibt.
Was für Geschichten schreibt die postkoloniale Migration? Das ist Gurnahs Lebensthema.
Geboren wurde er 1948 auf Sansibar, dessen Namen die Deutschen vor allem aus der Alfred-Andersch-Schullektüre kennen, oder aber als Imbiss auf Sylt – in der echten Welt ist Sansibar eine Insel vor der Küste Tansanias. Sie war Teil des britischen Empires, und Gurnahs Jugend fiel zusammen mit der Unabhängigkeit 1963. Fünf Jahre später ging er nach Großbritannien, wo er Literaturprofessor wurde, mittlerweile ist er emeritiert.
Gurnah hat viele Romane geschrieben, mit »Afterlives« auch einen über die deutsche Kolonialherrschaft in Ostafrika. Fast immer kreisen sie um Protagonisten, die zwischen Sansibar und Großbritannien in der Luft hängen.
Die Tragödie der Dekolonialisierung
So ist es etwa in »Die Abtrünnigen«, einem großartigen, komplexen Roman, erschienen 2005, in deutscher Übersetzung ein Jahr später. Auch hier geht es um die Insel und die benachbarte tansanische Küste. »Die Abtrünnigen« erzählt zum einen von einer unmöglichen Liebesgeschichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein britischer Kolonialist verliebt sich in die Schwester eines Händlers, der den Mann aufgenommen hat, nachdem er ausgeraubt worden ist. 50 Jahre später wiederum geht es um eine andere unglückliche Liebe, die der Bruder des Erzählers mit einem Mädchen erlebt, und die auf Druck der Familie beendet wird.
All das ist aber nur der Hintergrund, vor dem Gurnah ein großes Szenario aufbaut. Er erzählt von der Tragödie der lokalen Bildungselite von Sansibar, deren Kinder die Schulen der britischen Kolonialherren besuchen und auf die das strahlende Licht des westlichen Universalismus fällt und ihnen scheinbar die Welt öffnet. Aber auch davon, wie die Briten aus Sansibar abziehen und die Eltern des Erzählers rasch den postkolonialen Umwälzungen zum Opfer fallen. Wie die Entkolonialisierung im Großen eine Befreiung gewesen sein mag, im Kleinen aber etwa kein neues Bildungssystem an die Stelle des alten setzen kann. Und wie der Erzähler selbst, der einzige, der sich aus dem Durcheinander retten kann, nach England geht – um dort in der Diskriminierung durch seine Mitstudenten die Grenzen jenes Universalismus zu erfahren, an den zu glauben er auf der Kolonialschule erzogen worden ist.
Dass die postkolonialen Subjekte kein Zentrum kennen, wie es die westliche Kulturgeschichte für ihre Protagonistinnen und Protagonisten immer wieder so erfolgreich behauptet und beschrieben hat, ist eine der großen Thesen des Postkolonialismus. Dass der Westen eine Macht- und Wissensstruktur errichtet habe, durch die Herrscher und Beherrschte überhaupt erst lernen, »ich« zu sagen. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Postkolonialismus besonders in den Literaturwissenschaften so große Bedeutung hat – ist es doch die Wissenschaft, die versucht zu ergründen, wie Geschichten funktionieren. Wer sprechen darf und wer nicht, wie gesprochen wird und warum.
Das Aufregende an Abdulrazak Gurnah ist, dass er zeigt, was für Geschichten sich aus dieser Konstellation ergeben können. Dass er die alte, europäische Form des Romans nimmt und mit ihr die Geschichten erzählt, die der alte weiße Kanon offengelassen hat. Offenlassen musste – so funktionierte die koloniale Herrschaft ja. Das Schwarze wurde ausgestrichen, war in die Unsichtbarkeit gezwungen. Gurnah ist dabei kein Nostalgiker, ihm geht es nie um eine bessere, versunkene, vorkoloniale Welt. Sondern um das genaue Gegenteil: die nachkoloniale Welt. Und die Menschen, die sich in ihr bewegen, versuchen, eine Biografie zusammenzutragen. Menschen, die Widersprüche in sich tragen.
Eine Kulturrevolution ist im Gange
Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass die Welt gerade eine tiefgreifende Kulturrevolution durchläuft. Dass Migration und Klimawandel uns dazu zwingen, die westlich dominierte Kulturgeschichte noch einmal genau darauf zu überprüfen, was eigentlich trägt für die kommenden Jahrzehnte.
Dabei ist es immer schwieriger zu definieren, was weg kann, als was man unbedingt weiter benötigt. Wie könnte ein anderer Kanon aussehen? Einer, der die globalen Erfahrungen anders spiegelt als der, den wir haben? Vor einigen Wochen gab es in Hamburg einen Kongress zu genau der Frage: »Breaking the Canon: Konferenz zur Kanonzerstörung« . Große Einigkeit gab es nicht. Dafür viele unbekannte Namen. Wie könnte eine postkoloniale Literaturgeschichte aussehen – und muss man den Kanon dafür zerstören?
Bereits im Frühjahr hatten anlässlich der Leipziger Buchmesse Aktivistinnen und Aktivisten die Auswahl der Shortlist kritisiert. Sie schrieben: »Unter den Nominierten befinden sich jedoch keine schwarzen Autor:innen und Autor:innen of Colour «, die Liste sei also zu weiß.
In der Radikalität des Titels der Hamburger Tagung, aber auch in dem offenen Brief zeigt sich die andere, die bilderstürmerische, dogmatische Seite der postkolonialen Denkschule, die oft auch in das enge, sektenhafte Denken der Identitätspolitik hineinführt: nicht die künstlerische Qualität eines Werks ist entscheidend, sondern die Herkunft oder die politische Position der Person, die es produziert hat.
Würde die Auszeichnung für Gurnah dieser Logik folgen, hätte auch die Identitätspolitik ihren ersten Nobelpreis. Doch Gurnah entspricht nur vordergründig dem Klischee vom schwarzen Autor aus dem »globalen Süden« – und hat sich selbst schon kritisch über diese in progressiven Kreisen beliebte Floskel geäußert, indem er darauf hinwies, dass sie von Ökonomen der Weltbank geprägt worden sei.
Und auch wenn man sich angesichts ihrer Begründung kaum vorstellen kann, dass sich die Stockholmer Jury bei ihrer Entscheidung für einen weithin kaum bekannten schwarzen Autor nicht vom identitätspolitisch geprägten Zeitgeist hat leiten lassen – Abdulrazak Gurnah ist kein dogmatischer Schriftsteller. Er setzt auf Komplexität und nicht auf moralische Eindeutigkeit. Auf Ästhetik, nicht auf Rechthaberei.
Das Nobelpreiskomitee hat einen Vorschlag zur Diskussion gemacht. Es muss ja nicht darum gehen, den Kanon zu zerstören. Sondern ihn zu erweitern.
Anmerkung: In einer ersten Version dieses Textes hieß es, die Insel Sansibar liege vor der Küste Kenias. Tatsächlich liegt sie vor der Küste Tansanias. Wir haben den Fehler korrigiert.