Globale Krisen "Die Flüchtlinge sind nur ein Teil einer umfassenden Krise"


Achille Mbembe, 58, ist der bekannteste Denker des Afropolitanismus - der philosophische Versuch, die Welt aus der Perspektive Afrikas zu verstehen. Geboren in Kamerun, lebt und lehrt er als Professor in Johannesburg und auch in Harvard. Für sein zentrales Werk "Kritik der schwarzen Vernunft" wurde er 2015 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er beschäftigt sich mit den Umbrüchen der kolonialen und der kapitalistischen Welt und erklärt, wie beides zusammenhängt.
SPIEGEL ONLINE: Herr Mbembe, es knirscht und kracht in Europa. Was ist los mit dem Kontinent?
Mbembe: Europa ist eine alte Macht, die immer noch viel Einfluss hat. Europa war es gewohnt, die Welt zu beherrschen. Europa entschied, was richtig war und was falsch. Europa bestimmte die Ordnung des Universums. Aber Europa hat die Fähigkeit verloren, die Vergangenheit wie die Zukunft zu gestalten.
SPIEGEL ONLINE: Und was bedeutet das, für Europa und für die Welt?
Mbembe: Der Kontinent hadert mit dem Verlust. Europa ist kein Vorbild mehr, besonders nicht für Schwellenländer wie Südafrika. Wir sehen in Europa kaum noch Ideen oder Praktiken, die uns helfen könnten, unsere eigenen Probleme zu lösen.
SPIEGEL ONLINE: Europa ist nicht mehr die "Apotheke der Welt", wie Sie in ihrem aktuellen Buch mit Bezug auf den Philosophen Frantz Fanon schreiben. Was konnte die Welt einst von Europa lernen?
Mbembe: Die Welt, so schien es, konnte von Europa lernen, wie man Armut bekämpft. Wie man mit Not umgeht und Krankheiten. Wie man Wohnraum für die Massen schafft. Wie man Menschen hilft, das zu verkaufen, was sie hergestellt haben. Wie man zwischen dem Notwendigen und dem Überflüssigen unterscheidet. Aber Europa liefert nicht mehr die Antworten auf so dringende Fragen.
Das ist ein historischer Bruch.
SPIEGEL ONLINE: Gleichzeitig gab es immer beides, wie Sie selbst schreiben, die helle und die dunkle Seite Europas, hier Demokratie und Freiheit, dort Kolonialismus und Sklaverei.
Mbembe: Das Versprechen Europas war immer geheuchelt. Europa hat seit Beginn der Moderne im 15. und 16. Jahrhundert versucht, die Menschen in der Welt von der eigenen Überlegenheit zu überzeugen. Heute funktioniert das nicht mehr. Die Welt ist kleiner geworden. Es ist schwer, zwischen "hier" und "dort" zu unterscheiden. Europa versucht, sich vor der Welt zu schützen, die es als gefährlich wahrnimmt.
SPIEGEL ONLINE: Das Krisenbewusstsein ist global. Welche Rolle spielen dabei die Flüchtlinge?
Mbembe: Die Flüchtlinge sind nur ein Teil einer umfassenden Krise. Was wir erleben, ist eine großflächige Neuverteilung der Weltbevölkerung. Das ist mehr als Migration, das ist ein gewaltiger Vorgang, der vor langer Zeit begonnen hat und das ganze 21. Jahrhundert bestimmen wird. Die Weltkarte wird sich dramatisch verändern.
SPIEGEL ONLINE: Wie verhält sich Europa Ihrer Meinung nach in dieser historischen Situation?

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Mbembe: Die Art und Weise, wie Europa mit den Flüchtlingen umgeht, ist alles andere als demokratisch. Die Grundlagen des humanitären Denkens werden missachtet. Diese Krise wird die Vorstellungen, die Europa von sich hat und die es dem Rest der Welt verkaufen wollte, entlarven. Was etwa an der südlichen Grenze Europas entlang des Mittelmeers geschieht, ist ein unfassbarer Skandal.
SPIEGEL ONLINE: Sie kritisieren Europa seit jeher. Überrascht Sie das, was Sie zurzeit beobachten?
Mbembe: Ja, weil vieles davon neu ist. Es gab schon früher erzwungene Migration, die Sklaverei ist so ein Beispiel. Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert wurden Millionen und Millionen von Menschen umgesiedelt, von Afrika nach Amerika, von Indien zur Küste Ostafrikas. Doch wir haben es heute nicht mit erzwungener Migration zu tun, sondern mit Menschen, die verzweifelt sind und für die die Grenze ein tödlicher Ort wird. Und diese Veränderung der Grenze von einem Ort des Handels zu einem Ort des Todes ist vollkommen neu.
SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das für die Demokratien, die sich durch diese Grenzen schützen?
Mbembe: Das Problem der Demokratie war immer, dass sie für den Nationalstaat gemacht war. Die Rechte, die die Demokratie garantiert, gelten nur für die Bürger dieses Staates, nicht für Flüchtlinge, Passanten, Fremde. Die Demokratie beruht auf dem Konzept der Verwandtschaft. Das heißt nicht, dass Ausländer nicht Staatsbürger werden können. Aber die Voraussetzung dafür ist, dass sie sich benehmen wie die Autochthonen. Das ist ein Limit der liberalen Demokratie.
SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das genau?
Mbembe: Die liberale Demokratie lässt keinen Raum für die Vielfalt, aus der die Welt besteht. Wenn wir also die Demokratie vertiefen wollen, müssen wir sie vom Nationalstaat trennen. Wir müssen jedem Menschen Bürgerrechte geben. Sie müssen verfassungsrechtlich gesichert sein, so wie es Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" formuliert hat.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt unrealistisch. Ist das nicht nur ein Gedankenexperiment?
Mbembe: Es ist mehr als das. Denn was ist die Alternative? Die Menschen sind in Bewegung, und die Grenzen werden sie nicht aufhalten. Wir haben also die Wahl, die Grenzen vollständig zu militarisieren und sie in Massengräber zu verwandeln. Oder wir finden eine neue Gedankengrundlage, die nicht mehr vom Nationalstaat abhängt.
SPIEGEL ONLINE: Eine neue Form von Weltregierung?
Mbembe: Ich weiß es nicht. Aber es ist eine Tatsache, dass die Menschheit mit Problemen konfrontiert ist, die nicht auf der Ebene des Nationalstaates gelöst werden können. Und selbst, wenn wir es versuchen, wir schaffen damit nur mehr Trauma und mehr Desaster.
SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, dass wir die Gewalt, die wir exportieren, auf Umwegen wieder importieren.
Mbembe: Die westliche Demokratie hat vor allem deshalb so lange überlebt, weil sie die Gewalt, die ihr eigen ist, nach außen ableiten konnte. Im 18. Jahrhundert richtete sich diese Gewalt gegen die, die Widerstand leisteten - gegen die neue kapitalistische Weltordnung, die Arbeiter, die Kommunarden, die Marginalisierten. Was aber Demokratien nicht wollen, ist Bürgerkrieg. Das ist der Alptraum der westlichen politischen Philosophie, von den Griechen bis heute. Also lenkt man die Gewalt, die sich sonst gegen die eigenen Leute richten würde, besser gegen andere.
SPIEGEL ONLINE: Das passierte in den Kolonien.
Mbembe: Richtig. Die Kolonien waren der Ort, wo die Gewalt der Demokratie externalisiert wurde. Hier konnte Gewalt ohne Grenzen ausprobiert werden, eine Gewalt, die sich sonst gegen die Menschen im eigenen Land gerichtet hätte. Die Menschen in den Kolonien standen gewissermaßen außerhalb des Gesetzes. Hier konnte man mit allen möglichen Grausamkeiten experimentieren, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Experimente mit Camps, Experimente mit Völkermord. All das ist Teil der Geschichte der Demokratie, von der wir nicht so viel hören.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommt die Gewalt dann wieder zurück in die westlichen Gesellschaften?
Mbembe: Ich habe gerade mal wieder Alexis de Tocqueville gelesen, den Denker der westlichen Demokratie. Wenn wir Demokratie sagen, meinen wir Tocqueville. Aber Sie sollten vergleichen, was er über Amerika schreibt, seine berühmte Schrift, und was er über Algerien schreibt, eine vergessene Schrift. Tocqueville befürwortete in Algerien, das damals von Frankreich besetzt war, Formen der Gewalt, die er in Frankreich klar ablehnte. Gewalt, die man als Kriegsverbrechen bezeichnen kann. Wenn es gegen Araber geht, gibt es keine Grenzen der Gewalt: Verbrennt die Ernte, vertreibt Frauen und Kinder, vollbringt alle Arten von Grausamkeiten, solange sie zum Ziel führen.
SPIEGEL ONLINE: Das Ziel hieß Zivilisation?
Mbembe: Ja, Zivilisation. Oder auch Plünderung, Enteignung, Diebstahl, Unterwerfung der Völker. Aber Tocqueville sagt auch, dass man den Generälen, die diese Kolonialkriege führen, nie erlauben dürfe, Frankreich zu regieren.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Mbembe: Weil sie die Mechanismen und Praktiken aus den Kolonien mit nach Frankreich zurückbringen würden. Und das wäre das Ende des demokratischen Systems. In jeder Gesellschaft gibt es einen Überschuss an Gewalt, der irgendwohin abgeleitet werden muss. Man braucht einen guten Feind.
SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, dass auch der Krieg gegen den Terror so funktioniert.
Mbembe: Das Neue an der Gewalt unserer Gegenwart ist, dass sie nicht mehr weit entfernt stattfindet, sondern an unseren Grenzen. Nicht mehr in Kabul oder Sanaa oder irgendwo in der Sahara, sondern in Griechenland, Estland, Ungarn, Österreich. Und ab und zu intra muros, innerhalb der Mauern, wenn sich ein Fanatiker in einem Café in Paris oder Brüssel in die Luft sprengt.
SPIEGEL ONLINE: Und eine Reaktion darauf ist die "Politik der Feindschaft", wie Sie das nennen: der Krieg?
Mbembe: Der Krieg ist das Sakrament unserer Zeit. Wir leben in einer neuen Ära, in der der Krieg die Lösung für alles zu sein scheint. Es ist eine Zeit, in der der Job des amerikanischen Präsidenten der eines Henkers ist. Der Präsident ist der Hauptbefehlshaber der Armee, und das bedeutet, dass man Menschen regelmäßig und ohne rechtliche Grundlage hinrichtet. Das ist das Ethos unserer Epoche.
SPIEGEL ONLINE: Wie spiegelt sich das in der Gesellschaft?
Mbembe: Es gibt zum Beispiel eine direkte Verbindung vom 15. und frühen 16. Jahrhundert, als die ersten Schwarzen in Amerika ankamen und auf Plantagen arbeiten mussten, zum heutigen Gefängnissystem. Der Körper des Sklaven wurde zu einer Art Werkzeug. Er gehörte sich nicht selbst, er setzte seine Arbeitskraft ein, aber er wurde dafür nicht bezahlt. Er war Teil der kapitalistischen Wirtschaft, und er war gleichzeitig kein Teil davon. Er hatte keine Familie. Selbst seine Kinder waren nicht seine Kinder, sie konnten jederzeit verkauft werden.
SPIEGEL ONLINE: Und wie verhält sich das, wie Sie schreiben, zum heutigen Gefängnissystem in den USA?
Mbembe: Das amerikanische Strafsystem ist eng verbunden mit dem ökonomischen System. Es handelt sich oft um privat betriebene Gefängnisse, deren Besitzer Geld verdienen wollen. Sie müssen Profit machen, und dafür brauchen sie Gefangene. In Missouri etwa finanzieren sich die städtischen Haushalte durch die Strafen für Verhaftungen, Verwarnungen und Verurteilungen. Die Folge von all dem: 12 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind schwarz, aber 40 Prozent der Gefängnisinsassen.
SPIEGEL ONLINE: Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass die ganze Welt zum "nègre" wird, zum "Neger"?
Mbembe: Der Neger ist eine spezifische Kategorie von Menschen, mit denen man machen kann, was man will. Wenn man andere Menschen so grausam und sadistisch behandeln würde, würde man dafür angeklagt oder moralisch verurteilt. Früher wurden nur die Neger so behandelt, heute trifft es viele Menschen. Heute hat das nichts mehr mit der Farbe der Haut zu tun. Heute geht es um die Stellung auf einer Skala der Unterwerfung.
SPIEGEL ONLINE: Wie stark hat die koloniale Erfahrung Ihr Denken geformt?
Mbembe: Das Kamerun, in dem ich aufwuchs, war schon ein freies Land. Es wurde von Schwarzen regiert. Es gab ein paar Weiße, aber das kümmerte eigentlich niemanden. Wir hatten unsere Autoren, unsere Literatur, unsere Musik, unsere Kultur. Rasse oder Rassismus hatte keine Bedeutung für mich.
SPIEGEL ONLINE: Wann erlebten Sie Rassismus?
Mbembe: Ich erfuhr davon zuerst durch die Lektüre von Frantz Fanon. Dann ging ich zum Studium nach Frankreich, das war in den frühen Achtzigerjahren, und auch hier war Rasse kein besonderes Thema. Erst in den USA wurde ich damit konfrontiert, als ich die Geschichte der Afro-Amerikaner studierte.
SPIEGEL ONLINE: Der Verstand versagt vor dieser Form der Gewalt, schreiben Sie.
Mbembe: Es ist ein System der Gewalt, das nicht auf einer rationalen Basis beruht. Fanon sagt, dass man eine größere Gewalt aufbringen muss, um diese grundlegende Gewalt zu beseitigen. Eine andere Wahl gäbe es nicht. Wenn du frei sein willst, dann musst du Gewalt anwenden. Wenn du nicht frei sein willst, okay, dann kannst du auf Gewalt verzichten.
SPIEGEL ONLINE: Fanon rechtfertigte Terror.
Mbembe: Er war sich sehr wohl der Ambivalenz von Gewalt bewusst. Es war ihm klar, dass man die Folgen von Gewalt kaum vorhersagen und erst recht nicht kontrollieren kann. Wenn man sie einmal freigesetzt hat, kann sie hierhin führen und dorthin.
SPIEGEL ONLINE: Gewalt bringt die Irrationalität zurück in die Gesellschaft.
Mbembe: Aber diese Irrationalität war nie fort. Fanon und auch der französische Philosoph und Psychoanalytiker Jacques Lacan haben sehr gut beschrieben, dass nicht nur Einzelne, sondern ganze Gesellschaften verrückt werden können. Eine bestimmte historische Konstellation reicht aus, und ganze politische Systeme können in den Wahnsinn kippen.
SPIEGEL ONLINE: Das wäre dann Faschismus.
Mbembe: Wenn eine Gesellschaft in Freunde und Feinde aufgeteilt wird, ist der erste Schritt in diese Richtung getan. Die Vernunft nimmt Ferien. Und Irrationalismus wird normal. Leidenschaften und Emotionen werden der Grundstoff des Politischen und machen damit das Politische unmöglich. Der Raum für Verhandlungen und Verschiedenheit verschwindet. All das, was dafür gesorgt hat, dass das Chaos nicht explodiert.
SPIEGEL ONLINE: Und was tun? Die ganze Gesellschaft in die Psychiatrie stecken?
Mbembe: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass so vieles verschoben ist: die Art, wie wir leben, die Sprache, die wir verwenden, die Technologie, die wir benutzen und die unser Leben verändert - vor uns öffnet sich eine vollkommen neue Epoche, und die traditionellen politischen Lösungen, wie wir unser Zusammenleben organisieren, sind dafür nicht mehr geeignet.